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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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unglaublich viele Sterne am Himmel in dieser Nacht, oder vielleicht kam es mir auch nur so vor. Ich wohnte erst seit kurzem hier, dein Großvater hatte für mich eine kleine Wohnung in der Nähe der Uni gemietet, obwohl deine Großmutter dagegen war, dass ich so jung von zu Hause wegging.
Wir standen also vor meiner Haustür und ich wusste nicht, wovor ich mehr Angst hatte, davor, dass er fragen würde, ob er mit nach oben kommen darf oder davor, dass er es nicht fragen würde.«
Jo atmete ein und hielt inne. Wanja, die bis jetzt auf der Bettkante gesessen hatte, lehnte sich langsam, ganz langsam zurück, ans Kopfende, den Blick unverwandt auf ihre Mutter gerichtet, die jetzt den Kopf hob und ins Leere schaute.
»Er fragte nicht«, erzählte Jo weiter. »Ich fühlte ihn in meinem Rücken, als ich zur Tür ging, und als ich am frühen Nachmittag aus dem Haus kam, um zur Arbeit zu gehen, war auf dem Bürgersteig vor meiner Tür ein riesiges Bild. Es war ein Bild von mir, mit weißer Kreide auf die Steine gemalt. Ich lag auf der Seite und schlief, die Locken fielen mir ins Gesicht, meine Schultern waren nackt, über meinem Körper war eine dünne weiße Decke.«
Plötzlich musste Jo lächeln, ganz leicht und ganz kurz. »Ich weiß noch, wie mir das Blut ins Gesicht stieg, als ein älterer Herr den Weg entlangkam, auf das Kreidebild und dann auf mich starrte. Bei der Arbeit sind mir drei volle Teller aus der Hand gerutscht und ich behielt keine einzige Bestellung im Kopf, denn der war viel zu voll mit ihm. Flora lachte mich aus, so kannte sie mich nicht, ich kannte mich so ja nicht mal selbst. Als ich abends nach Hause kam, saß er neben meinem Kreidebild und wartete auf mich. Er nahm mich an die Hand und führte mich zu sich nach Hause. Er wohnte nicht weit von mir, in einer Dachgeschosswohnung mit einer winzigen Küche, einem Duschbad und einem Zimmer, in dem es nur einen Schrank, ein großes Bett, viele Kerzen und noch mehr Bilder gab.
Dieses Zimmer wurde unser Zuhause, wann immer wir uns sahen. Ich behielt meine Wohnung, aber getroffen haben wir uns fast ausschließlich bei ihm. Meist lagen zwei, manchmal auch drei Tage zwischen unseren Treffen und anfangs fragte ich ihn oft, was er machte, wenn wir uns nicht sahen. Er lächelte dann und sagte ›mich nach dir sehnen‹. Einmal zeigte er mir das Atelier eines Freundes, der für ein Jahr ins Ausland gegangen war und ihn für diese Zeit dort arbeiten ließ. Aber von seinen Bildern konnte er nicht leben, seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Taxifahren. Oft, sagte er, fuhr er die ganze Nacht durch, weil man dann das meiste Geld verdient. Wir telefonierten nie, er hatte nicht einmal ein Telefon, und an den Tagen, an denen wir uns trafen, holte er mich meist vom Café ab. Ich hätte ihn am liebsten Tag und Nacht gesehen, ununterbrochen, aber er wollte es nicht, er sagte, wenn wir uns sehen, dann ganz. Und genauso war es auch. Wenn wir zusammen waren, dann gab es nichts außer uns beiden und er war so sehr da, wie ich es noch nie bei einem Menschen erlebt habe. Er war die Antwort auf all meine Wünsche und dasselbe schien ich für ihn zu sein.« Wieder hielt Jo inne und sie holte nicht Luft, sie rang danach, als wäre im Zimmer nur noch wenig davon vorhanden. Wanja hätte ihr gern ein Fenster geöffnet, aber dann hätte sie aufstehen müssen, und das ging nicht, es hätte die Situation zerstört, also blieb sie sitzen und wartete, bis Jo fortfuhr.
»Im Februar wurde ich schwanger, wir waren noch nicht mal ein halbes Jahr zusammen. Seine Eltern kannte ich nicht und deine Großeltern hatten ihn erst einmal gesehen. Wir hatten sie besucht, deine Großmutter mochte ihn nicht, was schon daran lag, dass er keine ordentliche Arbeit hatte. Und er gab sich keine Mühe, sich bei ihr einzuschmeicheln, er blieb höflich und zurückhaltend, was sie nur noch mehr gegen ihn aufbrachte. Ihm machte es nichts aus. Nichts schien ihm etwas auszumachen, nichts dergleichen jedenfalls. Als ich ihm sagte, dass ich schwanger war, sah ich zum ersten Mal so etwas wie Angst in seinem Gesicht, es war ein winziger Augenblick, aber er reichte, um mich aus der Fassung zu bringen. Ich flippte aus, schrie ihn an, schließlich hatten wir beide nicht aufgepasst, wie man so schön sagt. Tür knallend, verließ ich sein Haus, und als ich draußen stand und merkte, dass er nicht hinterherkam, hatte ich das Gefühl, die Welt geht unter. Zwei Tage lang hörte ich nichts von ihm, und als ich bei ihm klingelte,

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