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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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grellgelbe Blase. Die alte Frau sah sie mit ruhigen Augen an. »Wenn ihr dem Gong nicht folgt, bleibt ein Teil von euch für immer zurück.«
    Die Kaugummiblase zerplatzte auf dem Gesicht des Mädchens, und noch bevor jemand fragen konnte, wo dieser Teil zurückbleiben würde, zog die Frau an dem eisernen Pinselkopf.
    Wie vorhin, vor der roten Tür, hörte Wanja ein leises Klingeln. Es tönte aus dem Inneren der Rundbögen und klang wie viele kleine Glockenschläge, die von weit, weit her zu kommen schienen. Dann war alles still.
    Wanja war eine der Ersten, die sich regte. Sie ging auf die äußerste Arkade zu, schob den Vorhang zur Seite und betrat einen Raum. Er war winzig wie eine Kabine. Licht gab es nicht. Aber das Gemälde an der hinteren Wand sah man auch so. Es war von einem leuchtend roten Rahmen umgeben und schien aus sich selbst herauszustrahlen. Das Gemälde zeigte einen Gelehrten. Für einen Moment fühlte sich Wanja an das Bild des Philosophen aus der Kunsthalle erinnert. Doch dieses Gemälde war anders. Die Farben waren viel intensiver, sie hatten eine fast lebendige Ausdruckskraft und im Unterschied zu dem anderen Gelehrten blickten die Augen dieses Mannes Wanja an, als wäre sie das Geheimnis, das er zu ergründen versuchte. Alles an ihm wirkte wie echt und fast meinte Wanja, den Wind in seinen Locken rauschen zu hören.
    Findet das Bild, das euch angeht. Wenn ihr es gefunden habt, berührt es. Wanja sah den Wanderer noch einmal an. Er gefiel ihr, das Bild gefiel ihr, aber ging es sie an? Die alte Frau hatte gesagt, es würde kein Zweifel bestehen. Und Wanja erinnerte sich, wie Jo einmal gemeint hatte, jede Frage, die kein eindeutiges Ja in einem hervorruft, könne man beruhigt mit Nein beantworten.
    Als Wanja die Arkade verließ, stieß sie fast mit dem schlaksigen Jungen zusammen. Er war im Begriff, etwas zu sagen, schien sich aber dann an die Anweisung der alten Frau zu erinnern und schob sich mit einem schiefen Lächeln an ihr vorbei. Für einen Moment dachte Wanja an Mischa, suchte ihn im Saal, doch der war jetzt wie leer gefegt.
    Die Jugendlichen hatten sich in den Arkaden verteilt, immer nur für einen Augenblick huschten sie hinter einem der Vorhänge hervor, um gleich darauf in der nächsten Arkade zu verschwinden, manchmal auch zu zweit oder dritt. Aber immer in völliger Stille.
    Die alte Frau wachte an dem roten Tisch auf der Bühne.
    Das nächste Gemälde, das Wanja anschaute, war rot gerahmt wie das erste und zeigte einen Ritter. Er saß auf einem schwarzen Pferd, die Zügel lagen locker in seiner linken Hand. Mit der rechten strich er sich das gewellte Haar aus dem Gesicht, seine Lippen umspielte ein Lächeln, aber die Augen, mit denen er Wanja betrachtete, waren ernst und nachdenklich.
    Wanja dachte an die Rittergeschichte, die sie für die Schule geschrieben hatte. Sie dachte auch, dass Flora an diesem Bild ihre helle Freude gehabt hätte. Aber darüber hinaus fühlte sie nichts.
    Sie ging weiter, zu dem Gemälde eines Schafhirten, der inmitten seiner Herde stand. Zum Bild eines Geschichtenerzählers, der umringt war von Zuhörern. Zu einem Indianer, der am Feuer saß. Er trug weder Kriegsbemalung noch Federschmuck und auch nicht das mit bunten Perlen bestickte Kostüm, mit dem die Indianer in Wildwestfilmen oder bei den Karl-May-Festspielen ausgestattet waren. Der Mann hatte ein weißes T-Shirt an, sein Haar war grau, aber sein dunkles Gesicht war unverkennbar indianisch. Eine ruhige Kraft ging von ihm aus. Wanja stand eine ganze Weile vor ihm, hoffend, dass sich etwas in ihr regte. Aber das tat es nicht.
    Ein Pirat, hoch oben an Deck seines Schiffes.
    Ein König, seine Hand zum Gruß erhebend, ein Spieler am Roulettetisch.
    Ein Balletttänzer auf der Bühne, ein Bettler auf der Straße, ein Maler vor seiner Staffelei.
    Ein Torero beim Kampf, ein Eskimo in blendend weißem Schnee.
    Ein Mönch in einer roten Kutte, im Yogasitz auf kaltem Steinboden. Eindrucksvolle Bilder. Aber keins löste etwas in ihr aus.
    Dann sah sie den Akrobaten.
    Sein Gemälde hing in der Arkade, die hinten links vom Saal abging.
    Schon als Wanja in den kleinen Raum trat, fühlte sie, das etwas an ihr zog – von innen her. Sie schaute auf das Bild. Der Akrobat saß auf dem Trapez, seine Hände umfassten das Seil. Sein dunkles Haar war am Hinterkopf mit einer Lederschnur zu einem dicken Schopf zusammengebunden. Mit leicht geneigtem Kopf schaute er zu Wanja herunter und lächelte sie an.
    Wanja vergaß den Saal

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