Die geheime Reise
die Wange.
»Mach dir wegen der blöden Fünf in Mathe keine Sorgen, das wird schon. Und wenn nicht, ist es auch egal. Eine Mathematikprofessorin wird aus dir ohnehin nicht. Oder ist es, weil du zu Oma musst? Bist du deshalb so still? Es tut mir ja auch Leid, dass wir schon wieder nicht zusammen wegfahren können! Aber Oma und Uri freuen sich bestimmt ganz schrecklich auf dich, wo sie doch sonst kaum eine Abwechslung haben.« Wanja öffnete die Beifahrertür.
»Alles okay, Jo, mach dir keine Sorgen. Wir müssen los, sonst verpasse ich noch den Zug.«
Als der ICE sechseinhalb Stunden später im Münchner Hauptbahnhof einfuhr, hatte Wanja Kopfschmerzen (weil Jo ihr versehentlich einen Platz im Raucherabteil gebucht hatte), steife Glieder (weil ihr schrankgroßes Gegenüber mit ausgestreckten Beinen eingeschlafen war) und einen knurrenden Magen (weil sie die Brote auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte).
Zum Glück war Wanjas Großmutter eine hervorragende Köchin, und als Wanja hinter ihr in den frisch gebohnerten Flur des weiß gestrichenen Einfamilienhauses trat, ließ ihr der Duft, der aus der Küche strömte, das Wasser im Munde zusammenlaufen. Reibekuchen mit selbst ge kochtem Apfelmus!
»Aber zuerst begrüßt du Uri,«, drängte ihre Großmutter und schob Wanja vor sich her die Treppe hinunter. Früher war das große Zimmer im Souterrain Omas Nähzimmer gewesen, jetzt war es das Krankenzimmer von Wanjas Urgroßmutter. Wie lange war es her, dass sie ihren Schlaganfall erlitten hatte? Sechs, sieben Jahre mussten es sein, Wanja war damals noch sehr klein gewesen. Jedenfalls eine lange Zeit und bestimmt keine leichte Aufgabe für Wanjas Großmutter, die sie seither pflegte.
»Hallo Uri!« Wanja beugte sich über die dreiundneunzigjährige Frau, die mit hochgeklapptem Rückenteil in dem zum Fenster gerichteten Metallbett lag.
»Ich bin da, freust du dich?« Ihre Urgroßmutter hob den Zeigefinger ihrer linken Hand, zum Zeichen, dass sie Wanja verstanden hatte. Ihre Augen waren seit dem letzten Jahr noch heller geworden. Winterwolkenhimmelblau, überzogen von einem milchigen Schleier.
»Ich muss jetzt erst mal was essen, Uri«, sagte Wanja, der inzwischen fast schlecht vor Hunger war.
»Aber später komm ich wieder runter und les dir was von Dostojewski vor, okay?« Uris Zeigefinger zuckte und eine Viertelstunde später saß Wanja in Omas Küche und verdrückte ihren siebten Reibekuchen.
»Meine Güte, du bist ja wieder völlig ausgehungert«, sagte ihre Großmutter und strich Wanja mit ihren feingliedrigen Fingern das Haar aus der Stirn.
»Und diese Lotterzotteln, wann wirst du sie endlich abschneiden oder wenigstens zusammenbinden?! Dass deine Mutter aber auch nicht auf diese Dinge achtet. Was sollen denn die Leute denken, wenn du so herumläufst?«
Wanja, die voll und ganz damit beschäftigt war, das letzte bisschen Apfelmus mit ihrem Reibekuchen aufzuwischen, war es ziemlich gleichgültig, was die Leute über sie dachten, aber darüber wollte sie sich mit ihrer Großmutter lieber nicht streiten.
»Und was macht die Schule?« Wanjas Großmutter hatte sich die Küchenschürze umgebunden und war schon dabei, mit ihren geräuschlosen Bewegungen das Geschirr abzuwaschen. Sie war noch schmaler als Jo, aber sie hatte etwas Zähes an sich und Wanja ahnte, dass ihre Großmutter weit mehr aushalten konnte, als ihr zarter Körper zugeben wollte. Sie schob ihren Teller zur Seite, öffnete den obersten Knopf ihrer Jeanshose und dachte an Frau Gordon, die sie nach den Ferien möglicherweise nicht wieder sehen würde, weil ihr wegen des neuen Lehrerarbeitszeitmodells eine Versetzung in eine andere Schule drohte. Es war seltsam gewesen, sich von ihrer Klassenlehrerin zu
verabschieden und nicht zu wissen, ob es für sechs Wochen oder für immer war. Eins der neun Bücher, die in Wanjas Reisetasche lagen, hatte Frau Gordon ihr geschenkt. Es war ein Fantasyroman, der in der Ritterzeit spielte, und als Frau Gordon ihr das Buch am Tag vor
den Ferien in die Hand gedrückt hatte, hatte sie mit den Augen gezwinkert und gesagt:
»Wer weiß, Wanja, vielleicht wirst du eines Tages auch solche Bücher schreiben. Das Talent dazu hast du jedenfalls.«
Aber über ihre Lehrerin wollte Wanja jetzt nicht sprechen, zumal sie wusste, dass die Frage ihrer Großmutter in erster Linie auf die Noten zielte.
»Geht so«, murmelte sie deshalb. »Außer in Mathe
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