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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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letztem Abend sollte es ihr noch einmal schmerzlich bewusst werden. Das gestern zu Ende gepuzzelte tausendteilige Schweizeralpenpuzzle lag auf dem großen Esstisch. Wanja saß mit ihrer Großmutter auf dem Sofa und blätterte in Fotoalben. Vier Stück besaß ihre Großmutter. Eines mit Fotografien und gesammelten Notizen aus ihrer eigenen Kindheit. Genau wie Wanja und Jo hatte auch die Großmutter einmal braune Locken gehabt, die auf den Fotos aber immer zu einem strengen Dutt gebändigt waren. Nach dem Herzinfarkt von Wanjas Großvater waren sie innerhalb von drei Wochen eisgrau geworden.
    Beim Durchblättern des Albums war Wanja wieder aufgefallen, dass es darin kein Foto von ihrem Urgroßvater gab, während ihre Urgroßmutter auf einigen Bildern zu sehen war. Eine kräftige, sehr lebendige Frau mit einem herben Gesicht und einem herrischen Zug um den Mund, den sie bis heute behalten hatte. Jo hatte Wanja einmal erzählt, dass ihre Großmutter als Kind sehr unter Uri gelitten hatte und nicht selten von ihr geschlagen worden war. Ob Oma daran dachte, jetzt, wo sie Uri pflegte? Denn jetzt, dachte Wanja, jetzt ist irgendwie Uri das Kind und Oma die Mutter.
    Das zweite – dickste – Album war dem Leben von Wanjas Großvater gewidmet. Zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag hätte er es bekommen sollen, doch in der Woche davor, als es beinahe fertig war, war er gestorben. Jo war es gewesen, die Wanjas Großmutter dazu überredet hatte, das Album zu Ende zu bringen. Nächtelang hatte die Großmutter daran gesessen, Foto um Foto liebevoll eingeklebt und Seite um Seite auf ihrer alten Schreibmaschine dazugetippt. Es war eine Chronik in Reimform geworden, romantischer und spannender als mancher Roman. Immer wenn Wanja bei ihrer Großmutter zu Besuch war, las sie darin. Am liebsten hatte sie die Geschichte, wie sich Wanjas Großeltern am Bahnhof von München wieder sahen, nach drei langen Jahren, die der Großvater in Kolumbien verbracht hatte, weil ein Bekannter ihm dort einen guten Posten vermittelt hatte. Wanjas Großmutter war eine wunderschöne Frau gewesen und niemand hatte damals geglaubt, dass sie drei Jahre auf einen Mann warten würde. Aber sie hatte gewartet, genau wie der Großvater gewartet hatte –, und als Wanja las, wie die beiden nach so langer Zeit wieder voreinander standen und wussten, dass alles noch da war, liefen ihr, wie immer an dieser Stelle, die Tränen aus den Augen.
    Die Bilder im dritten, in Jos Fotoalbum, betrachtete sie dagegen auch jetzt wieder mit sehr gemischten Gefühlen. Die kleine Jo, die als Mädchen genauso ausgesehen hatte wie Wanja, bis auf die Augen. Jo mit ihrem Papili, wie sie Wanjas Großvater immer genannt hatte, auf der Wippe. Jo auf Papilis Arm mit einem riesigen Eis in der Hand. Jo und Papili an Jos erstem Schultag.
    Auch in Wanjas eigenem Album war Jos Vater, der seine Enkelin ebenso zärtlich geliebt hatte wie seine eigene Tochter, auf jedem dritten Bild zu sehen. Aber Wanjas Vater fehlte, ebenso spurlos, wie er auch in ihrem Leben fehlte. Es war, als hätte es ihn nie gegeben.
    Dafür fiel Wanja, als sie jetzt ihr Album aufschlug, etwas anderes auf. Die erste Seite zeigte ebenfalls ein Bild von Jo. Dem dicken Bauch nach zu urteilen, musste ihre Mutter damals bestimmt schon im achten Monat gewesen sein. Aber das war es nicht, was Wanja stutzig machte. Es war der Ausdruck in Jos Augen. Sie leuchteten. Nein, sie strahlten, so intensiv, als hätte jemand eine Kerze dahinter angezündet. Wanja hatte schon oft gehört, dass schwangere Frauen besonders glücklich aussehen, aber dieses Gesicht war anders. Diesen Ausdruck hatte sie in den Augen ihrer Mutter nie gesehen und bei den früheren Malen, als sie das Album durchgeblättert hatte, war er ihr auch nicht aufgefallen. Doch jetzt war er ganz deutlich, vor allem im Vergleich zu den Bildern danach, auf denen Wanja als kleines Baby in Jos Armen lag. Das Leuchten in Jos Augen war verschwunden und ihr Lächeln glich einer Grimasse, was Wanja plötzlich furchtbar traurig machte.
    Ihre Hände zitterten, als sie das Album zuklappte, und sie ärgerte sich über ihr Herzklopfen, das ihr das Sprechen schwer machte: »Oma, was ist mit meinem Vater? Warum tut ihr immer alle so, als gäbe es ihn nicht?«

    Keine Antwort.
    »Oma. Ich hab dich was gefragt.« Warum, warum nur konnte diese unsichtbare Hand nicht aufhören sich um ihren Hals zu legen, jedes Mal, wenn Wanja vor diesem Thema stand. Es war lächerlich, einfach

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