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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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lächerlich.
    »Oma. Bitte.«
    Wanjas Stimme war ein verzweifeltes Krächzen, doch ihre Großmutter sah mit kalten Augen an ihr vorbei und sagte, was sie immer sagte. »Dein Vater war ein schlechter Mensch, ein Lügner und Betrüger, der es nicht wert ist, dass man über ihn …«
    Wanjas Finger hatten sich so fest in das Sofakissen gekrallt, dass sie das Gefühl hatte, gleich durch den Stoff auf die Federn zu stoßen.
    »Warum hackt ihr alle nur auf ihm herum?«, fragte sie mit erstickter Stimme. »Warum sagt ihr mir nicht einfach, was passiert ist?«

    Ihre Großmutter schwieg. Dann stand sie auf. Stand einfach auf und verließ den Raum.
    Als Wanja Stunden später an ihrem Schlafzimmer vorbei in ihr eigenes Zimmer ging, hörte sie ihre Großmutter leise weinen.

    Wanjas Reisetasche war schon fertig gepackt, als sie am Abreisetag am Bett ihrer Urgroßmutter saß und ihr die letzten Seiten aus Dostojewskis »Erniedrigte und Beleidigte« vorlas. Es war eins der unbekannteren Bücher des russischen Schriftstellers, den ihre Urgroßmutter ihr ganzes Leben lang vergöttert hatte. Wanja kannte sie alle, denn sie las ihrer Urgroßmutter diese Bücher vor, seit sie lesen konnte. Hob Uri einmal den Zeigefinger, hieß es, dass Wanja den Satz überspringen sollte, während das zweimalige Heben von Uris Zeigefinger bedeutete, sie wollte den Satz noch einmal hören.
    Deshalb hielt Wanja erstaunt inne, als ihre Urgroßmutter plötzlich dreimal ihren Zeigefinger hob. »Was ist los, Uri? Hab ich was falsch gelesen?« Wanja legte das Buch zur Seite und sah ihre Urgroßmutter an. In den hellen Augen, die tief, tief in ihren Höhlen lagen, blitzte es. Wanja konnte den Ausdruck nicht deuten. Ihre Oma schien auf die Rückseite des Buches zu blicken, und hob dann noch einmal den Zeigefinger, einmal, zweimal, dreimal und Wanja runzelte verwirrt die Stirn. »Ich versteh dich nicht, Uri, was …« Wanja hatte das Buch schon umgedreht, als von oben die Stimme ihrer Großmutter ertönte. »Kind, beeil dich!«, rief sie. »Dein Zug fährt in einer Dreiviertelstunde, nun mach endlich voran, ich sehe schon kommen, wie er ohne dich nach Hamburg fährt.« »Ich komme!«, rief Wanja. Sie beugte sich über ihre Urgroßmutter und dann fiel ihr Blick auf die Rückseite des Buches. Sie war von einem leuchtend roten Rahmen umgeben und darin stand die Einladung für den nächsten Besuchstag. Er war am 31. August, um 16:00 Uhr. An Wanjas erstem Schultag nach den großen Ferien.
S CHWARZES B LUT
    D ie gute Nachricht, die Wanja am ersten Schultag erhielt, war, dass Frau Gordon ihre Klassenlehrerin bleiben würde. Die Versetzung war zurückgezogen worden. Die Klasse hatte gejubelt und Frau Gordon hatte zur Feier des Tages einen Kuchen mitgebracht. Die schlechte Nachricht war, dass Herr Schönhaupt neben Mathematik ab jetzt auch noch Chemie und Physik unterrichtete, weil er nicht, wie geplant, die neue 5a als Klassenlehrer übernehmen sollte.
    »Wenn die wüssten, was ihnen entgeht«, sagte Sue und setzte grinsend ihre Sonnenbrille auf. Sie standen zu viert auf dem Schulhof und Sue sprach mit starkem amerikanischem Akzent, wie immer, wenn sie aus ihrem Heimatland zurückkam. Wie vielen berühmten Schauspielern Sue diesmal wieder in Hollywood begegnet war, hatte sie bereits in der ersten Pause zu erzählen versucht. Aber auch Britta und Tina sprudelten über vor ihren Ferienerlebnissen und Wanja kam sich vor wie bei einem Wettbewerb, bei dem der Teilnehmer mit der besten Reise 500 Euro gewinnen würde.
    Selbst Tina, die ihrer Freundin Sue sonst immer an den Lippen hing, unterbrach sie heute ständig, um zu wiederholen, wie süß ihr Pflegepferd gewesen war, wie oft der Reitlehrer sie für ihr Talent gelobt hatte und wie viele Kinder außer ihr beim Geländespringen vom Pferd gefallen waren.
    Britta hatte sich im Urlaub ihre blonden Haare »vom Starfriseur des Clubs« noch heller tönen lassen und erinnerte Wanja in ihrem glitzergrünen, bauchfreien Tanktop an eine Barbiepuppe im Großformat.
    Mischa, der an seinem Platz bei den Fahrradständern lehnte, sah aus wie immer, und als Wanja ihn entdeckte, freute sie sich fast noch mehr als nach ihrer Heimkehr über Jo und Schröder. Während die drei anderen durcheinander redeten, sah Wanja immer wieder verstohlen zu ihm hinüber, aber etwas hielt sie davon ab, auf ihn zuzugehen. Es war wie eine unsichtbare Wand, die außerhalb des Museums noch immer zwischen ihnen stand. Vielleicht war es aber auch eine gläserne

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