Die geheime Reise
wusste, dass sie sicher war, und es war ganz seltsam, sie fühlte sich so sicher wie noch nie in ihrem Leben. Sie ließ sich auf Taros Beinen nieder, ihre Hände umfassten die Seile unter seinen Händen, und als Taro das Trapez höher trieb, lachte sie, lachte und schrie, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, nicht mehr zu schaukeln, sondern zu fliegen.
»Und jetzt, Wanja«, rief Taro, »lass die Hände los. Lass dich nach hinten fallen.«
Wanja war längst über den Punkt des Nachdenkens hinaus, es war, als hätte das Schaukeln in der Luft alle Gedanken in ihr weggeblasen. Ihr Kopf war leer und ihr Oberkörper, der sich jetzt nach hinten bog und fiel, einfach fiel, gehörte ihr nicht mehr und gehörte ihr doch.
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, als rutschten ihr die Beine weg, doch dann spürte sie, wie sie gehalten wurden, oder vielmehr: wie sie sich selbst hielt, mit der Kraft ihrer Füße, die sich nach innen gebogen und um Taros Rücken geschlossen hatten. Wanja fragte sich nicht, warum sie das konnte, und sie wunderte sich nicht, woher sie die Kraft hatte oder wie Taro dazu kam, ihr diese Kraft zuzutrauen. Sie konnte es und sie hatte die Kraft und Taro hatte es gewusst.
Sie ließ ihre Arme baumeln, wie sie es oft in ihrem Garten tat, wenn sie an der Reckstange hing. Aber im Schaukeln war es ein völlig anderes Gefühl. Sie sah Gatas Gesicht und sah es nicht und sah es wieder und sie hörte die Trommel, takka-ta-tamm, takka-ta-tamm, takkatatakkata, takka-ta-tam, und als sie merkte, wie die Kraft sie verließ, hörte sie Taros Stimme. »Schwing mit dem Oberkörper zurück nach oben, Wanja, und streck deine Hand aus, hol die Kraft aus deiner Wirbelsäule, von unten nach oben, ich halte dich – jetzt!«
Wanja tat, was Taro ihr sagte. Ihre Beinmuskeln spannten sich, ihre Füße schmerzten, aber Wanja hielt aus und im Zurückschwingen der Schaukel beugte sie ihren Oberkörper nach oben, Wirbel für Wirbel, begleitet von der Trommel, bis sie sich fühlte wie ein U, dann streckte sie die Hand aus, griff nach Taros Hand und ließ sich – takka-ta-takk-takk – von ihm nach oben ziehen.
Als Gata das Trapez wieder nach unten gelassen hatte, zitterten Wanja die Beine. Jeden einzelnen Muskel spürte sie und in ihrem Körper breitete sich ein tiefes Glücksgefühl aus. Hatte Mischa etwas Ähnliches gefühlt, als er mit Taro getrommelt hatte? Wo war er überhaupt? Da stand er, oben auf dem Balkon, an der Trommel, wo er sich mit einem leichten Kopfnicken vor ihr verbeugte.
»Wow.« Wanja starrte Mischa an. »Hast du getrommelt? Du bist ja richtig gut.«
»Er ist hervorragend.«
Wer hatte das gesagt? Wanja fuhr herum. Die Stimme kam vom Vorhang. Von O. Er musste schon eine Weile dort gestanden haben und schaute jetzt ebenfalls zu Mischa hoch, der vor lauter Verlegenheit plötzlich nicht mehr wusste, wo er seine Hände lassen sollte. O schien es zu merken und deutete mit dem Kopf zu Taro. »Aber du hast auch einen guten Meister, Mischa. Alles, was ich kann, verdanke ich ihm. Und du«, O wandte sich an Wanja, »hast deinen Meister ebenfalls gefunden, wie ich sehe.«
Taro, der bereits auf dem Boden stand, streckte seine Hand nach Wanja aus, um ihr vom Netz herunterzuhelfen. Er sah ihr fest in die Augen. »Für das, was du da gerade aus dem Stegreif geleistet hast, brauchen manche Menschen Wochen.«
Wanja glühte und Gata nickte. Sie hatte sich neben dem Sicherheitsnetz auf einer Trittleiter aus rot lackiertem Holz niedergelassen und ihr zerzauster Kopf schaute zwischen ihren Beinen hervor, die sie mit den Händen um die Fußgelenke kerzengerade in die Luft gestreckt hielt. »Das war wirklich unglaublich gut«, sagte sie, ohne ihre Haltung zu verändern. »Du besitzt die drei Eigenschaften, die für das Trapez am wichtigsten sind. Mut, Instinkt und Leichtigkeit.«
»Und ich besitze die drei Eigenschaften, die für ein gutes Essen wichtig sind.«
Hinter O war Perun aufgetaucht und legte sich die Hand auf den Bauch. »Ich habe Hunger, Hunger, Hunger! Es gibt rote Suppe, also hopp, hopp, bewegt euch.«
Wie bei ihrem ersten Besuch im Zirkus saßen die anderen Artisten bereits an den zusammengerückten Tischen, auf deren Mitte Perun kurz darauf einen riesigen, gusseisernen Topf stellte. Ein süßlich scharfer Duft strömte Wanja entgegen.
»Pass auf, dass du dir nicht die Zunge verbrennst«, warnte Gata, als Perun Wanja eine große Kelle Suppe einschenkte. »Nach Peruns Suppe kann sogar eine
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