Die geheime Reise
Runde. »… die Seele vom Circus Anima, nicht wahr, meine Lieben, das ist er.«
Niemand hatte etwas einzuwenden und Wanja wusste nicht, ob Babas Worte sie erleichterten oder verwirrten. Hilfe suchend sah sie zu Taro. Aber Taro hatte den Kopf zum Himmel gewandt, der sich vom Horizont her schwarz färbte. Im selben Augenblick ertönte der Vogelschrei. Der Vogel selbst blieb unsichtbar. Doch sein Begleiter, der Schatten, überzog jetzt wie im Zeitraffer den gesamten Himmel und fraß auch von der Erde alle Farben, als ob er selbst ein gieriger Vogel wäre. Wanja hielt Taros Hand umklammert, am Tisch herrschte Totenstille, die erst unterbrochen wurde, als noch jemand schrie. Taro.
Wanja wirbelte herum und erstickte ihren eigenen Schrei, indem sie sich die Faust vor die Lippen presste. Sulana stand an ihrem Platz, die gelben Augen weit aufgerissen. Ihre Hände rissen an der Schlange, die angefangen hatte, sich um ihren Hals zu schnüren, immer fester, unnachgiebig wie ein Todesstrang.
O saß wie gelähmt neben ihr, während Sulana zog und zerrte, aber nichts tun konnte. Die Schlange war stärker und es schien, als wäre sie selbst von panischer Angst getrieben.
Taro sprang auf, schrie Thrym und Thyra an ihm zu helfen, aber selbst den starken Zwillingen gelang es nicht, den Würgegriff des Tieres zu lockern, so sehr sie sich auch anstrengten.
Sulanas Gesicht wurde dunkelgrau und sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Doch gerade als das Mädchen in Taros Arme sackte, kam die Farbe zurück. Die Schlange löste sich von Sulanas Hals, glitt am zierlichen Körper des Mädchens herab und ringelte sich im Gras zusammen. Sulana rang nach Luft. Sie hustete. Aber sie lebte.
Keiner sprach ein Wort. Alle Augen waren zum Himmel gerichtet, aus dessen strahlendem Blau langsam, langsam eine Feder nach unten segelte, sich sanft im Wind drehte und nach endlosen Sekunden in Taros Teller landete.
Das Ende der Feder war blutig. In die Stille der Artisten tönte der Gong.
Babas rundes Gesicht war weiß wie Kreide.
»Im Zirkus Anima gibt es anscheinend sehr wohl etwas, wovor man sich fürchten muss«, presste Wanja hervor, als sie sich mit Mischa auf den Heimweg machte.
G ENAU WIE DEIN V ATER
H ast du alles, Stupsel? Wir müssen los.«
Jo stand schon an der Tür, als Wanja mit ihrer Reiseta sche die Treppe runterkam und Schröder zum Abschied noch einmal feste an sich drückte. Hatte sie alles? Nein, sie hatte nicht alles. Ihr fehlten Antworten, jede Menge Antworten, während die Fragen an ihr nagten wie Mäuse am Speck. Selbst Taro, der sich anscheinend von nichts aus der Ruhe bringen ließ, hatte verstört ausgesehen, als er Wanja und Mischa nach dem Gongschlag zurück zum Rahmen gebracht hatte. Er hatte diesen seltsamen Vogel nie zuvor gesehen, das war das
Einzige, was er gesagt hatte, bevor Wanja hinter Mischa zurück in den Rahmen stieg. Aber wenn der Schattenvogel vorher nicht da gewesen war, fragte sich Wanja, als sie ihre Tasche auf den Rücksitz von Jos Auto warf, hatte es dann vielleicht etwas mit ihren Besuchen zu tun? Immer wieder erschien vor ihrem inneren Auge die Schlange, die sich um Sulanas Hals geschlungen hatte, getrieben von Angst, da war sich Wanja sicher. Tiere hatten einen Instinkt für Gefahr, so viel war klar. Ob Sandesh den Vogel auch wahrgenommen hatte? Wanja war nicht mehr dazu gekommen, Taro zu bitten, mit ihnen zur Weide zu gehen. Sie war zu vielen Dingen nicht gekommen. Und jetzt –
»Mensch Purkelbär, was ist eigentlich los mit dir? Du bist schon seit Tagen so schweigsam« – würde sie wieder warten müssen. Warten, bis es weiterging. Warten, bis sie wieder mit Mischa sprechen konnte, der die Sommerferien zu Hause verbringen würde. Warten, bis sie eine Nachricht erhielt.
Ein tiefer Schreck durchfuhr Wanja. Und was, wenn eine Nachricht in ihrer Abwesenheit eintreffen würde? Sie biss sich auf die Lippen. Verdammt, daran hatte sie gar
nicht gedacht.
»Ist es wegen dem Zeugnis? Hau ab, du Idiot, das ist mein Parkplatz!« Jo drückte auf die Hupe und ballte die Faust, aber der Fahrer des schwarzen Golfs beachtete sie gar nicht. Seelenruhig schnappte er ihr den Parkplatz weg. Jo tobte.
»Meine Nerven, diesen rücksichtslosen Typen hier sollte man den Führerschein abnehmen!«
»Da ist einer.« Wanja zeigte nach links, Jo trat auf die Bremse und quetschte ihr Auto in die schmale Parklücke.
Dann drehte sie sich zu Wanja und strich ihr über
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