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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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bin ich eigentlich ganz gut.« 
    »Ganz gut ist nicht gut genug, mein liebes Kind«, kam es von der Spüle. »Und Rechnen muss man können, sonst wird man nichts in diesem Leben.« Wanja stand auf, um ihrer Großmutter beim Abwasch zu helfen. 
    »Jo war auch nicht gut in Mathe und aus ihr ist schließlich auch was geworden.«
    »Na ja, na ja!« Ihre Großmutter schüttelte die eisgrauen Locken und drehte sich ruckartig um, als Wanja nach der abgespülten Apfelmusschale griff. 
    »Pass auf, dass du nichts fallen lässt, hörst du? Ich seh die schöne Schüssel schon in Scherben!«
    Wanja grinste. Ihre Großmutter war ein solcher Pessimist, dass sie es fertig brachte, bei strahlendem Sonnenschein Schirm und Regenjacke mit zum Einkaufen zu nehmen. Jo hatte sich immer fürchterlich darüber aufgeregt, aber Wanja nahm es leichter. »Ich pass schon auf, Oma«, sagte sie und gab ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange.
    Nachdem die Küche aufgeräumt war, verzog sich Wanja auf ihr Zimmer. In dem kleinen, quadratischen Raum mit der geblümten Tapete, dem dunkelblauen Teppich und den schweren Gardinen hatte sich nichts verändert. Jos Kindertisch, an dem auch Wanja ihre ersten Schreibübungen gemacht hatte, stand am Fenster. Daneben, im Regal, stand der Plattenspieler mit den Schallplatten, die Wanja als Kind gehört hatte. Und Hermann, der Bär, den Jo als Baby bekommen hatte, lächelte Wanja mit erhobener Pfote von seinem Platz im Schaukelstuhl entgegen. Seine hellblaue Strickjacke hatte Uri Wanja noch zur Geburt gestrickt und die dunkelblauen Samtschuhe an den Bärenfüßen waren Wanjas erste Kinderschuhe gewesen. Vier Jahre hatten sie und Jo hier gewohnt, bis ihre Mutter es nicht mehr aushalten konnte und mit Wanja zurück nach Hamburg gezogen war.
    Damals hatte Wanjas Großvater noch gelebt. Als ihre Großmutter zum Kaffeetrinken rief, räumte Wanja rasch ihre Anziehsachen in den Schrank, stellte die acht Ferienbücher, die Jo ihr gekauft hatte, ins Regal, legte das Ritterbuch von Frau Gordon auf den Nachttisch
    und stieg die mit Teppich überzogenen Treppenstufen zurück nach unten.
    Lesen und essen, diese beiden Dinge waren es, die Wanjas Sommerferien bestimmten. Ihre Großmutter konnte noch besser kochen als Flora und jedes Mittagessen war ein kleines Fest. Wanja durfte bestimmen, was es gab. Käsehackbraten mit selbst gemachtem Kartoffelpüree, Endiviensalat mit Specksauce, Semmelknödel, Kaiserschmarrn, Topfenpalatschinken, Tomatensuppe mit Reisbällchen, Arme Ritter.
    Aber von der Speisevielfalt abgesehen, verliefen die Tage bei der Großmutter nach einem eintönigen und streng geregelten Rhythmus. Frühstück um 8:30 Uhr, Mittagessen um 12:30 Uhr, selbst gemachten Kuchen und heiße Schokolade mit Sahne um 15:30 Uhr, Abendbrot um 18:30 Uhr und um 21:00 Uhr das Nachtmahl, einen Teller Käsegebäck mit frisch gepresstem Apfelsaft, den ihre Großmutter in einer Kristallkaraffe servierte.
    Zwischen den Mahlzeiten ging Wanja mit ihrer Großmutter einkaufen, spielte mit dem siebenjährigen Nachbarsmädchen Verstecken, las ihrer Urgroßmutter aus Dostojewskis Romanen vor, sah abends fern oder half ihrer Großmutter bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Puzzeln. Anschließend, im Bett, verschlang sie ihre Bücher. Eine dreibändige Mädchenserie, zwei Abenteuerromane, eine Heldensaga und zwei Bände mit Feriengeschichten hatte Jo ihr gekauft, aber am besten gefiel Wanja der Fantasyroman von Frau Gordon.
    So schlichen die Tage und Wochen dahin und genau dreieinhalb Mal passierte es, dass Wanjas Großmutter die Worte »Genau wie dein Vater« über die Lippen kamen wie kleine spitze Pfeile, die ihr Ziel niemals verfehlten.
    Das erste Mal, als Wanja ihre Socken auf dem Sofa liegen ließ. Das zweite Mal, als Wanja während des gesamten Mittagessens nach draußen starrte und die große Elster fixierte, die vor dem Küchenfenster im Baum saß. Das dritte Mal, als Wanja behauptete, der Fleck auf dem Teppich in ihrem Zimmer sei schon bei ihrer Ankunft da gewesen. Und das angebrochene vierte Mal, als Wanja den letzten Bissen ihres Hackbratens auf dem Teller liegen ließ und ihre Großmutter bei den Worten »Genau wie …« verärgert abwinkte. Dreieinhalb Mal in sechs Wochen war ungewöhnlich wenig, aber es reichte, um Wanjas Gedanken vom Zirkus und von Taro abzulenken und auf ihren Vater zu richten, dessen nicht vorhandenes Vorhandensein sie in den Wochen zuvor fast vergessen hatte.
    An Wanjas

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