Die geheime Sammlung
Geschwindigkeit überließ. Meine ungleich ausgestatteten Füße gaben mir einen hüpfenden Rhythmus: Schritt und Sprung, Schritt und Sprung. Ich hatte keine Ahnung, wohin es mich trug. Ich folgte meinen Füßen. Bei jedem zweiten Schritt sammelte ich die Eindrücke: ein Platz, eine Autobahn, ein Vorgarten, ein gefrorener See, ein Park, ein Parkplatz. Mr.Stone war immer einen Schritt hinter mir.
»Du kannst mir nicht entkommen«, rief er. »Ich habe den anderen Stiefel.«
Es war mir egal. Ich liebte die Bewegung. Auf der Fahrt mit dem Pneu war mir übel geworden, weil ich hilflos voranschoss, aber das hier war etwas anderes – ich war am Steuer.
»Schneller, Libbet«, kreischte André fröhlich und trommelte mit seinen kleinen Fäustchen auf den Deckel des
Kuduo
ein. Schritt und Sprung. Schritt und Sprung. Ein Berg, ein verschneiter Strand, ein zugefrorener Fluss im Mondschein.
»Halt«, rief Mr.Stone. »Wohin willst du?«
»Nirgendwohin«, rief ich im Laufen zurück.
Eine bleiche, mondbeschienene Ödnis war rings um uns her. Ich hielt an, um Luft zu holen. Mr.Stone keuchte schwer, André lachte. Im Mondlicht glitzerte der Erdboden wie von kleinen Sternen oder Glasscherben. Keine Häuser, keine Bäume, keine Straßen – nur der glitzernde Erdboden und der Mond.
»Elizabeth«, sagte eine knirschende Stimme. Ich fuhr auf meinem stiefellosen Fuß herum, spürte kleine Kiesel durch meine Socke und sah eine kleine Frau, die viele Lagen Kleidung trug. Eine bekannte Frau – ich hatte sie gesehen, als sie im Hauptuntersuchungsraum döste, und ich hatte ihr vor langer Zeit, so schien es mir, meine Turnschuhe gegeben, an dem Tag, als Mr.Mauskopf mir die Aufgabe mit den Brüdern Grimm gegeben hatte.
»Wo bin ich? Was ist das für ein Ort?«
»Nirgendwo. Nirgendwo Besonderes«, sagte sie. »Bist du wegen deiner Turnschuhe hier?«
Ein bleiches weißes Licht erfüllte die Luft, wie der Mond, der hinter einer Wolke hindurchschien, aber es war keine Wolke am Himmel. Stattdessen funkelten Myriaden von Sternen, und wann immer ich hinschaute, waren es mehr. Ich erkannte einige Sternbilder von Dr.Rusts Sommersprossen wieder: ein Dreieck, ein Wagen, ein Schmetterling, sie schienen sich langsam zu drehen – oder drehte ich mich langsam? Ich konnte es nicht sagen.
»Lass mich runter«, sagte André und kämpfte sich aus meinen Armen. Er stellte das
Kuduo
ab, so dass er etwas in den glitzernden Staub malen konnte.
Mr.Stone sah verwirrt und überrumpelt aus. Er hob seine Arme und vollführte eine Geste, als ob er etwas auf mich schleudern würde, aber nichts geschah.
»Das funktioniert hier nicht, Wallace«, sagte die Obdachlose.
»Grace!«, sagte Mr.Stone. Er machte eine weitere bedrohlich aussehende Geste.
»Das auch nicht. Gib mir den Stiefel.«
»Damit ich für immer hierbleiben muss? Niemals.« Mr.Stone drehte sich um und floh. Zumindest versuchte er das. Aber der Stiefel trug ihn nicht weiter weg als ein ganz normaler Stiefel. Er stolperte und landete in einer Schneewehe.
»Den Stiefel, Wallace«, sagte Grace und hielt ihre Hand ausgestreckt. Langsam und widerwillig öffnete Stone die Schnürsenkel und gab ihn ihr.
Grace wandte sich mir zu. Daheim hatte sie traurig und mitgenommen ausgesehen, aber hier brauchte sie kein Mitleid. Sie wirkte stark, gelassen und mächtig. Sogar ihre Kleidung saß besser.
»Deinen Stiefel auch, Elizabeth«, sagte sie und hielt mir die Hand hin. Ich zog meinen Stiefel ab und gab ihn ihr.
»Danke. Hier.« Sie hielt mir meine alten Turnschuhe mit meinen alten Socken hin, gesäubert und sorgfältig ineinandergesteckt.
»Wer sind Sie?«
»Grace Farr. Wir kennen uns.«
»Ja, aber … wo – was ist das hier?«
»Wie ich sagte: Nirgendwo.«
»Aber wie kommt man hierher?«
»Oh, das ist ganz einfach. Dir fehlt dein Richtungssinn, nicht wahr? Du kannst eigentlich nirgendwohin kommen. Beziehungsweise du konntest eigentlich nirgendwohin kommen, solange du deine Turnschuhe nicht wiederhattest. Mit denen wirst du keine Probleme haben, nach Hause zurückzukehren.«
»Warum? Sind sie magisch? Haben Sie sie verzaubert?«
Grace lächelte. »Nein. Du hast sie verzaubert, als du sie mir gegeben hast.«
»Libbet?« André zupfte an meinem Ärmel. »Libbet!«
»Was ist, Schatz?«
»Libbet, ich muss jetzt.«
»Wir gehen gleich – oh, du meinst, du
musst
.« Ich wandte mich an Grace. »Ist es in Ordnung …?«
»Natürlich.«
»Geh schon mal, André«, sagte ich und drehte mich um,
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