Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
Gideon die Stirn und winkte noch einmal mit Nachdruck. »Donnerwetter«, sagte er unwirsch, »ihr sollt reinkommen, habe ich gesagt!« Lucinda war erleichtert.
Die nervösen Mongolen hasteten herbei und quetschten sich hinter Ragnar, Haneb und die Küchenfrauen.
Als Lucinda zu Simos Walkwell kam, blieb sie stehen.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie. »Ich habe gestern mal nach dir geschaut, aber da hast du geschlafen.«
|404| Der alte Faun sah sie mit müden Augen an. Selbst die Stümpfe seiner Hörner wirkten matt. »Dieses Ding hatte mich lange in seiner Gewalt«, sagte er langsam. »Wie du habe auch ich seine Giftsamen eingeatmet, aber länger als du, fast eine Stunde. Ich habe … Furchtbares gesehen.« Er senkte den Kopf. »Eine Welt, in der dieser Dämon das Einzige auf der Welt war, was noch lebte. Ich träumte, dass er sich bis zum Himmel streckte, um auch den zu erobern …« Walkwell versagte die Stimme, dann hob er eine zitternde braune Hand und tätschelte ihr den Arm. Lucinda fand es ungewohnt und beunruhigend, ihn so zu erleben. »Verzeih mir, Lucinda. Ich bin schon lange nicht mehr so am Ende gewesen. Setz dich doch. Es gibt heute viel zu besprechen.«
Alle Bewohner der Farm schienen jetzt anwesend zu sein, auch Colin und seine Mutter, die als Letzte hereingekommen waren und sich mit unbewegten Trauermienen wie auf einer Beerdigung ans Fußende von Gideons Bett stellten.
»So«, sagte Gideon. »Es freut mich sehr, euch alle zu sehen, viel mehr, als ihr euch vorstellen könnt.« Er lachte, als hätte er einen Witz gemacht. »In den letzten Wochen habe ich es zeitweise nicht mehr für möglich gehalten, dass es je wieder dazu kommen würde: ihr, ich, wir alle hier zusammen auf der Farm. Selbstverständlich bin ich euch allen sehr dankbar für die Mehrarbeit, die ihr während meiner Krankheit geleistet habt, aber es ist mir auch deutlich bewusst, dass die Wirren zum großen Teil meine Schuld waren.« Er nickte nachdrücklich. »Jawohl, meine Schuld. Ich bin ein alter Mann, und in meiner Hand liegen die Sicherheit und das Glück von vielen guten Menschen. Von euch. Ich darf nicht so nachlässig sein.«
Lucinda war beeindruckt. Wollte Gideon wirklich ausnahmsweise einmal zugeben, dass er nicht für alles eine Lösung parat hatte? Aber damit waren die schlimmsten Probleme |405| der Farm auch nicht gelöst. Sie sah heimlich zu Mrs. Needle hinüber, in ihren Augen dem gefährlichsten Problem auf der Farm, und bemerkte, dass Colin sie seinerseits mit einem schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht ansah. Als ihre Blicke sich begegneten, schlug er rasch die Augen nieder.
»Deshalb wollte ich euch etwas sagen«, fuhr Gideon fort, »nämlich dass ich mehr Klarheit darüber schaffen werde, was zu geschehen hat, falls ich einmal nicht da bin … nein, seien wir ehrlich:
wenn
ich eines Tages nicht mehr da bin. Denn ich werde nicht ewig leben.«
»Sag doch nicht so was!« Die Köchin Sarah bekreuzigte sich mehrmals. Sie klang ehrlich erschrocken, und die kleine Pema sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen.
Gideon lachte. »Na, na, meine Lieben. Wir sterben alle einmal, und wir haben alle die Pflicht, uns für sämtliche Eventualitäten zu rüsten. Schließlich würde ich heute vielleicht gar nicht mehr hier sitzen und euch diese kleine Rede halten, wenn ihr und vor allem Patience mich in diesen letzten Wochen nicht so hingebungsvoll gepflegt hättet.« Er kicherte, doch die übrigen im Raum sahen sich gegenseitig an oder warfen einen kurzen Blick auf Mrs. Needle. »Nein, ich habe in den letzten Tagen über das alles gründlich nachgedacht«, sprach Gideon weiter. »Lucinda und Tyler, würdet ihr bitte herkommen?«
Ihr Bruder sprang auf wie gestochen. »Was? Wir?«
»Geh einfach«, flüsterte Lucinda. Sie fasste ihn am Ellbogen und schob ihn zu Gideons Bett. Ihr Großonkel lächelte sie an wie ein müder Weihnachtsmann im Kaufhaus die letzten beiden Kunden des Tages.
»Caesar, bist du so gut und hilfst mir ein bisschen hoch?« Als die Kissen hinter ihm wieder aufgeschüttelt waren, nickte Gideon. »Besser. Danke. So, ihr zwei«, sagte er zu Tyler und |406| Lucinda. »Ihr habt diesen alten Laden ja tüchtig aufgemischt! Vor gar nicht so langer Zeit wünschte ich noch, ich hätte euch niemals hergeholt – aber heute bin ich da anderer Meinung. Ein Anwesen wie dieses braucht mehr als einen formaljuristischen Besitzer, es muss Leuten gehören, die daran hängen, die es lieben. Ich glaube, ich kenne
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