Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
vermutlich hast du recht. Ich habe mich bestimmt manchmal dumm benommen. Selbstsüchtig.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. Lucinda Jenkins war eigentlich ganz hübsch, bemerkte er wieder einmal. Nicht so auffallend wie das älteste Carrillo-Mädchen, die daherkam wie aus einer Teenagersendung im Fernsehen, klimpernde Armbänder und ausgefallene Frisuren und so, aber trotzdem sehr ansehnlich mit ihren glänzenden, glatten Haaren, ihrem ernsten |395| Gesicht, das vor einigen Wochen noch blass gewesen und jetzt richtig braun war. »Meinst du das ehrlich, Colin?«, fragte sie. »Oder redest du mir bloß nach dem Mund?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte … ich weiß nicht … ich wollte schon länger mal mit dir reden. Über vieles.« Wozu auch, wie ihm mit einem Mal klar wurde, die Tatsache gehörte, dass er sie mochte, und zwar anders mochte als irgendjemanden sonst, den er kannte. Aber das Gespräch damit zu eröffnen erschien ihm so beängstigend, wie auf einem Nachtflug mit einem Fallschirm abzuspringen, von dem man nicht wusste, ob er sich öffnen würde. »Über das, was hier letztens passiert ist. Über Sachen, die du gesagt hast. Weil ein paar davon … haben gestimmt … irgendwie …«
»Was meinst du damit?« Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie blickte interessiert, geradezu verständnisvoll, und zum ersten Mal seit der Gewitternacht hatte Colin das Gefühl, es könnte vielleicht doch nicht alles so hoffnungslos sein, wie es aussah.
»Na ja …« Er zögerte, von den vielen Gedanken in seinem Kopf plötzlich wie erschlagen. Was konnte er ihr sagen? Dass er seine Mutter ebenfalls für gefährlich hielt? Dass er anfing, sich richtig vor ihr zu fürchten, nicht nur so wie früher, sondern auf völlig neue Art? Schließlich würden Lucinda und ihr Bruder demnächst abreisen; es war Colin, der dann allein auf der Farm zurückblieb mit diesen ganzen Leuten, die ihn jetzt schon hassten. Was war, wenn seine Mutter merkte, was er dachte, wie er ihr misstraute? Wenn sie entdeckte, dass er mit Lucinda Jenkins über sie geredet hatte?
Und wenn er nun nichts sagte und das nächste Mal etwas
richtig
Schlimmes passierte, was war dann?
Aber bevor er weitersprechen konnte, tönte über das freie Gelände jenseits der Auffahrt ein Schrei: »He! He, Luce!«
|396| Tyler Jenkins kam auf sie zugetrabt, das Hemd heraushängend, die Baseballmütze zur Seite gedreht, das perfekte Bild des doofen, kleinen amerikanischen Schuljungen. Colin fühlte, wie sich ihm vor Enttäuschung und Widerwillen der Magen herumdrehte.
Als er auf die Veranda trat, sagte Lucinda: »Hi, Tyler.« Verhörte sich Colin oder schwang in ihrer Stimme ebenfalls eine leise Enttäuschung? Wenn ja, dann wäre das die Störung beinahe wert gewesen. »Lass mich mal, ich unterhalte mich gerade mit …«
Erst nahm Tyler ihn gar nicht zur Kenntnis. »Das hättest du sehen sollen, Luce, es war total zum Schießen! Eine der Ringschlangen war ausgebüxt, und Zaza hat Angst gekriegt und sich in Hanebs Haare gehängt, und der ist schreiend herumgehüpft und hat versucht, sie irgendwie rauszukriegen …« Er hörte auf zu reden und starrte Colin an. »Was hast du, Needle? Kann ich nicht mal mit meiner Schwester reden?«
Colin schluckte eine bissige Erwiderung hinunter. »Nur zu, Jenkins, sag, was du zu sagen hast. Niemand hindert dich daran.«
»Ach ja? Du guckst jedenfalls so, als würdest du nichts lieber tun. Stör ich bei irgendwas?«
»Das geht dich gar nichts an.« Er hörte den Klang seiner Stimme, kalt und zornig, und genau so wollte er in dem Moment auch klingen.
»Tyler!«, sagte Lucinda. »Wir haben uns gerade unterhalten. Sei kein Idiot.«
»Was?« Ihr Bruder wandte sich ihr mit rotem Gesicht zu. »Wieso bin
ich
auf einmal schuld? Der sitzt doch da und guckt, als wollte er mir eine reinhauen.«
Colin stand so abrupt auf, dass die Kufen des Schaukelstuhls auf den Verandadielen quietschten. »Ach, rutsch mir |397| doch den Buckel runter! Amüsiert euch schön, ihr zwei! Zu schade, dass ihr morgen abfahrt. Bei dem Gedanken bricht mir das Herz.«
Und ohne auch nur hinzuhören, was Lucinda Jenkins sagen wollte – war er denn wirklich so blöd gewesen zu glauben, sie würde irgendwas kapieren? –, machte Colin auf dem Absatz kehrt und stürmte ins Haus. Er hätte beinahe die kleine Pema umgerannt, als er durch die Eingangsdiele zur Treppe eilte, um sich in die Sicherheit seines Zimmers zu verziehen, aber ihm kam nicht einmal der Gedanke, sich
Weitere Kostenlose Bücher