Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
einen freundlichen Ton. »Schon okay, Mrs. Needle. Den Weg zu unseren Zimmern kennen wir noch.«
Mrs. Needle lächelte schwach. Umrahmt von ihren schwarzen Haaren schimmerte ihr blasses Gesicht wie der Mond. »Aber ihr habt in diesem Jahr andere Zimmer. Jetzt kommt mit, Kinder, es wird spät. Sagt allen gute Nacht.«
Das Haupthaus auf der Ordinary Farm war ein Labyrinth mit Holzfußböden, verblichenen alten Teppichen, flackernden Glühbirnen in leeren Fluren und zahllosen verschlossenen Türen, und trotzdem merkten sie, dass Mrs. Needle sie in der Tat nicht dorthin führte, wo sie im Jahr zuvor geschlafen hatten. Mit einer batteriebetriebenen Sturmlaterne in der Hand glitt sie wie eine Erscheinung vor ihnen her und blieb schließlich in einem Korridor stehen, den Tyler nicht wiedererkannte.
|36| »Da wären wir, Kinder.«
»Ist das hier nicht in Ihrem Teil des Hauses?«, fragte Lucinda.
»Ja, Lucinda«, sagte die Haushälterin streng. »Mein Arbeitszimmer ist ganz in der Nähe – mein Büro, würdet ihr wohl sagen. Deshalb weiß ich, dass ihr euch hier wohlfühlen werdet. Schlaft gut.«
»Warum können wir nicht wieder unsere alten Zimmer haben?«, fragte Tyler.
»Weil es so beschlossen wurde«, antwortete sie und klang bereits ein wenig unfreundlicher. »So kann ich euch besser im Auge – Pardon, ich meine, hier kann ich mich besser um euch kümmern.«
Die angewiesenen Zimmer lagen nebeneinander und schienen beide auf einen Hof hinauszublicken. Es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen, nur dass sie in einem der oberen Stockwerke waren, hatte Tyler mitbekommen. Mrs. Needle knipste erst im einen, dann im anderen Zimmer die Deckenbeleuchtung an, und sie sahen, dass beide Zimmer mit dunkler Holztäfelung und Blümchentapeten aus lang vergangenen Zeiten ausgestattet waren. Das einzig Moderne waren die Koffer der Kinder, die offensichtlich schon vorher hochgebracht worden waren. »Jetzt macht euch bettfertig«, sagte die Engländerin. »Es ist spät.«
Tyler putzte sich die Zähne und begab sich in sein Zimmer. Er war von dem Zimmerwechsel nicht begeistert – es war ihm beim ersten Mal schwer genug gefallen, sich in den Irrgängen des Farmhauses zurechtzufinden –, aber er war zu müde und zu satt, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er überlegte sich gerade, ob er zu Lucinda hinübergehen sollte, um noch |37| ein bisschen über diesen ereignisreichen Tag zu plaudern, als das Schloss seiner Tür klickte. Bis er aufgesprungen und hingerannt war, hörte er schon Lucinda verblüfft und empört an ihre Tür hämmern. Tyler rüttelte am Knauf, doch er ließ sich nicht drehen – die Tür blieb zu.
Die Hexe hatte sie eingesperrt.
|38|
4
GETROCKNETE EIDECHSE
W ütend, aber hundemüde setzte sich Lucinda auf ihr Bett und beschloss, zu ignorieren, dass ihr Bruder nebenan vor Zorn auf Tür und Wände einschlug.
Na schön, dann waren sie eben eingesperrt. Ihr gefiel es ja auch nicht, aber heute Abend konnten sie nichts mehr dagegen unternehmen, also warum konnte ihr Bruder sie dann nicht einfach in Ruhe schlafen lassen?
Endlich wurde es still in Tylers Zimmer. Lucinda holte ein Buch aus ihrem Koffer, einen alten Roman aus Mamas Bestand und begann, in ihr Kissen gekuschelt zu lesen. Das Buch hieß
The Singing Tree
und handelte von einer ungarischen Familie während des Ersten Weltkriegs. Die Handlung war spannend, und sie war müde genug, um einfach darin zu versinken. |39| Umso mehr erschrak sie, als es plötzlich an ihr Fenster klopfte: Mit einem lauten Schrei ließ sie das Buch fallen.
Es kam noch schlimmer. Tyler hing kopfüber vor ihrem Fenster wie eine große Fledermaus und grinste sie an.
»Du Idiot!«, rief sie, als sie aufsprang, um das uralte Fenster hochzuschieben, damit er hereinklettern konnte. Sie blickte nach unten. »Wir sind im zweiten Stock oder so. Du hättest dir den Hals brechen können!«
»Du klingst schon wie Mama«, sagte er. »Die ganze Außenwand ist doch total mit Efeu zugewachsen, da klettert es sich kinderleicht.« Mit völlig zerzausten Haaren und ungeheuer zufriedener Miene ließ er sich auf dem Fußboden nieder. »Mich sperrt niemand ein.«
Lucinda war kurz davor, seinen unverantwortlichen Leichtsinn zu bewundern. »Du spinnst ja«, sagte sie. »Wie willst du wieder zurückkommen?«
Tyler ließ sich auf den Rücken zurücksinken und streckte sich. »Es war wirklich irre. Der Mond ist richtig groß heute Nacht, schön hell zum Klettern. Und dieses Haus! Ich hatte ganz
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