Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Friedrich Nietzsche ihn bezeichnete, nur ein Henkergott sein könne. Mir hat diese Schlussfolgerung nie eingeleuchtet. All die genannten Dinge können nur zeigen, dass das Böse existiert, real ist, nicht wegzudenken aus dem Weltenplan. Als mein Großvater aus der russischen Gefangenschaft heimkehrte, trat er als Erstes aus der Kirche aus, er erzählte mir später, er könne nicht mehr in eine Kirche gehen, deren Vertreter Kanonenrohre und sogar SS-Männer gesegnet hätten. Die Entscheidung konnte ich zwar nachvollziehen, die beschriebenen Tatsachen sprachen aber nicht gegen Gott, sondern nur gegen bestimmte Institutionen und Menschen. Sein zweites Argument ging weiter: Er hätte keine Lust mehr zu einem Gott zu beten, der zusieht, wenn kleine Kinder verbrannt oder von Fluten verschluckt würden. Damit hatte er eine Frage aufgeworfen, die mich jahrelang nicht mehr bewegt hatte, weil ich ein kluger Skeptiker geworden und von einem materiellen Ursprung allen Seins ausgegangen war. Die zweite Antwort auf die Frage nach dem Sein des Seienden war für mich nicht diskutabel.
Joseph Ratzinger, der erste Deutsche seit 550 Jahren auf dem Heiligen Stuhl, hatte sie einmal sehr treffend formuliert: Wer die Materie zu Ende betrachtet, wird entdecken, dass sie objektivierter Gedanke ist. Vor der Materie steht vielmehr das Denken, die Idee, alles Sein ist letzten Endes Gedachtsein und ist auf Geist als Urwirklichkeit zurückzuführen.
Diese zweite Möglichkeit hatte ich lange Zeit ausgeschlossen. Erst kam der Urknall, dann die Ursuppe, dann die Urmenschen, dann die Uhren. Höherentwicklung einfach per Zufall und dann per Auslese. Wenn man ernsthaft darüber nachdachte, eigentlich viel irrationaler als ein geistiges Prinzip anzunehmen, das sich entfaltet und beim Menschen als seinem Spiegel anlangt. Gott erschien mir jahrzehntelang als menschliche Erdichtung. Rational nicht beweisbar. Das mochte sein, aber ob es darauf ankäme. Man kann Gott nicht rational beweisen, aber man braucht ihn praktisch und der Mensch ist letztlich auf die Praxis, auf den Vollzug des Lebens verwiesen und nicht auf endlose Grübeleien oder sophistische Spitzfindigkeiten. Wenn es ihn, diesen Schöpfer aber geben sollte, blieb das Problem aller Probleme: warum er nicht eingreift, warum er soviel an Leid geschehen, das Böse einfach gewähren lässt. Erst das Erlebnis im Dom machte mir bewusst, dass die Frage vielleicht schon völlig falsch gestellt war. Wer sagt uns denn, dass Er nicht ständig eingreift, wir wissen es meist nur nicht. Nur noch ein Gott kann uns retten!, hat einer der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts einmal halb resignierend, halb hoffnungsvoll auf die „Lichtung des Seins“ wartend, ausgerufen, vielleicht war auch ihm nicht bewusst, dass die Welt schon gar nicht mehr existieren würde, wenn Er uns nicht ständig retten, ständig das „goldene Gleichgewicht“ herstellen würde. Was immer einem passiert, im Negativem vor allem, aber auch im Positivem, man wird stets die Frage des „Warum gerade ich?“ auf den Lippen haben. Darauf wird es keine Antwort geben. Ich kann mir auch nicht erklären, warum gerade ich 1990 in diesem Pariser Antiquariat diese geheimnisvolle Sanduhr kaufen musste und warum ab dem 24. Dezember 2008 gerade meine Welt aus den Fugen geriet. Aber der Gedanke, dass alles doch irgendwie weniger irrational war, als ich anfangs vermutete, dass es doch einen Plan, eine Ordnung, einen Sinn, eine eingreifende positive Kraft geben könne, empfand ich mehr als nur beruhigend. Und irgendwie war es auch ein stolzes Gefühl, einen aktiven Beitrag geleistet, wie Bruce Willis in seinen Filmen wenigstens ein Stück Welt gerettet zu haben. Auch wenn es nie jemand erfahren würde. Das stimmte nicht ganz, ich erzählte den Ausgang der Geschichte meinem Freund Tommy und nach allem, was er mit mir erlebt hatte, war er wohl halbwegs überzeugt. Und erleichtert. Er meinte: „Schön, dass du jetzt wieder normal bist und nicht alles voraussehen kannst. Das ist nicht nur unheimlich, sondern strapaziert auch eine Freundschaft über die Maßen. Jeder will wissen, was die Zukunft bringt, aber nur als Wunsch, nicht mit einer hundertprozentigen Gewissheit.“
Ich hörte in den lokalen Spätnachrichten am Heiligen Abend die Meldung, dass es in den frühen Nachtstunden auf dem Rummelsburger See, nahe der Liebesinsel, eine Explosion gegeben habe. Möglicherweise wäre eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg explodiert. Spaziergänger
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