Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheimnisvollen Pergamente

Die geheimnisvollen Pergamente

Titel: Die geheimnisvollen Pergamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
Vom Netzwerk:
vergaß Elazar ben Aaron die Kälte, das zusammengebrochene und steif gefrorene Pferd und seinen Fußmarsch zu Rabbi Baruchs Haus. Er lag bis zum Kinn im warmen Wasser des Holzbottichs und dachte an seinen Vater. Dessen Gründlichkeit hatte ihm das Leben gerettet.
    Rabbi Baruchs Sohn hatte Elazars Haar geschnitten; mit der Klinge vom Sohn des Rabbis war es Elazar gelungen, seine Wangen und den Hals zu schaben und den Bart so weit zu kürzen, dass er ihn nicht mehr verunzierte und behinderte. Er fühlte, wie die Wärme und zugleich das Leben in seinen Körper zurückkehrten. Der Blick in den Spiegel hatte ihm gezeigt, dass er sich seit dem Brand in Überlingen verändert hatte. Sein Gesicht war magerer geworden, es zeigte einige Falten, und die Augen schienen härter und schärfer zu blicken. Die wenigen Monate hatten ihn um Jahre altern lassen, so schien es ihm.
    »Aber nun geht es mir gut«, murmelte er und fuhr fort, seine Haut zu bürsten und den Seifenschaum aus dem verfilzten Haar zu waschen. Die Fingernägel waren schmutzig und abgebrochen, die Fußnägel viel zu lang und schwarz vor Dreck. »Wenn ich das Büchlein meines Vaters nicht gehabt hätte!«
    Noch nie, seit er das gut handgroße, in schwarzes Leder gebundene Büchlein besaß, hatte er so aufmerksam darin gelesen und sich nicht nur an der Schönheit der kantigen Lettern und der eckigen Haken erfreut, sondern die Weisheit, die Namen und die Bedeutung zwischen den Zeilen herauszulesen versucht. So war er auf den Namen des Rabbi von Luzern und dessen Haus gestoßen, wohin er sich mit letzter Kraft gerettet hatte.
    Vater Aaron war aus Frankreich geflüchtet, trotzdem hatte er mit seinem Sohn Französisch gesprochen. Hebräisch schrieb Elazar ebenso gut, wie er es sprach, und mit Deutsch war er in diesem unseligen Überlingen aufgewachsen. Da außer Juden kaum jemand die hebräischen Schriftzeichen kannte, war Rabbi Baruchs Name in diesem Buch für die meisten Menschen unleserlich gewesen.
    Elazar griff nach einem wuchtigen Holzkamm und kämmte die Knoten und die Reste von Stroh und anderem Schmutz heraus, dann pflegte er seinen Bart und tauchte prustend unter. Das Kellergewölbe war voller Dampf, der träge durch den Kamin abzog. Hin und wieder drang das Heulen des Sturms durch die Öffnung. Fast widerwillig kletterte Elazar triefend aus dem Bottich und trocknete sich mit weichen, warmen Tüchern ab.
    Er zwang sich, an das herzliche Willkommen zu denken und nicht an die Zukunft. Warme Kleidung und dicke Filzschuhe lagen bereit; Rabbi Baruchs Mägde wollten seine alten Gewänder waschen und ausbessern. Ich habe Zeit, dachte er, denn bei dem Schneesturm und so hoch liegendem Schnee war ist an ein Weiterkommen nicht zu denken.
    Eigentlich war er stolz auf sich, es bis hierhin geschafft zu haben. Er zog sich an, breitete die Tücher zum Trocknen aus und stieg mit müden, warmen Gliedern die Treppe hinauf. Er schlüpfte durch den feuchten Ledervorhang, blinzelte im Kerzenlicht und erkannte den Rabbi, der an seinem Arbeitstisch vor dem Feuer saß.
    »Setz dich zu mir, Elazar«, forderte ihn der Rabbi auf und deutete auf einen Sessel mit hoher Lehne. »Ich glaube, du wirst heute tief und lange schlafen.«
    »Und ohne Albträume, Rebbeleben«, antwortete Elazar und wartete, bis der Rabbi ihm den gefüllten Becher reichte. »Ich werde mich immer an Eure Gastfreundschaft erinnern. Wie kann ich Euch jemals danken?«
    Der Rabbi lehnte sich zurück, trank einen Schluck und stellte den Becher ab. Ein langer, nachdenklicher Blick traf Elazar.
    »Es kann die Stunde kommen, in der ich deinen Dank einfordern muss. Aber das möge der Herr verhüten. Erzähle mir zuerst, was dir zugestoßen ist.«
    »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Elazar. »Sie fängt eigentlich in Paris an. Von dort musste mein Vater flüchten, als ich noch klein war…«
    Er stockte kurz, dann fing er an, von seiner späten Kindheit in Überlingen und vom Geschäft seines Vaters zu berichten. Da die Christen kein Geld gegen Zinsen verleihen durften, wurde dieses als ehrenrührig geltende Geschäft den Juden überlassen, denen sonst die meisten Berufe verwehrt waren. Selbst Christen liehen bei ihnen, und sein Vater hatte nie Wucherzinsen verlangt. Schließlich kam Elazar auf die beiden getöteten Kinder in Überlingen zu sprechen und auf den Gewaltausbruch und das qualvolle Sterben aller Juden von Überlingen.
    Er schilderte seine Flucht und den monatelangen Ritt durch Täler, über niedrige

Weitere Kostenlose Bücher