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Die geheimnisvollen Pergamente

Die geheimnisvollen Pergamente

Titel: Die geheimnisvollen Pergamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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versuchte, sich darüber klar bewusst zu werden, welche Möglichkeiten ihm geblieben waren. In jeder Stadt, in der es Juden gab – die im Büchlein seines Vaters verzeichnet standen –, konnte er Hilfe finden und sich kurze Zeit verstecken. Aber wohin wollte er eigentlich? Für welches Ziel sollte sich ein Zwanzigjähriger entscheiden, der nicht viel mehr konnte als rechnen, das aber immerhin schneller als jeder, den er bisher kennen gelernt hatte? Sollte er sein Glück im Morgenland versuchen?
    Erst einmal schaue ich mir das Land der Eidgenossen an, sagte er sich, nachdem er eine Weile überlegt hatte. Dann Frankreich oder Italien. Danach werde ich irgendwann einen Hafen finden, von wo aus mich ein Schiff zu einer Insel bringt oder vielleicht ins Heilige Land.
    Hundert Fluchtorte, hundert Städte und hundert Möglichkeiten standen ihm offen. Aber eine beglückende Gewissheit war das nicht, denn die Geborgenheit der Heimat hatte er zugleich mit seinen Eltern verloren.
    Die Stille schluckte die Ruderschläge. Murmelnd sprach er das Kaddisch, das Gebet für die Verstorbenen. Die Nacht nahm die leisen Worte und ihn tröstend in sich auf.

17
    Das Flüstern im Basar von Al Quds
     
    »Nimm Geld mit«, hatte Suleiman gesagt. »Du wirst es brauchen. Ich hab nicht genug für uns beide.«
    Sean hatte etliche Dinare und Drachmen eingesteckt, bevor er sich von Mara und Joshua verabschiedete. Henri war allein unterwegs; er wollte in der ehemaligen Kapelle der Christen beten, in der Vorhalle eines Gebäudes am Kalvarienberg, auf dem Jesus gekreuzigt worden war. An Suleimans Seite ging Sean in die Richtung eines Stadtviertels, das er noch nicht kannte.
    »Um schnell und leise sein zu wollen, brauchen wir gutes Schuhwerk«, sagte Suleiman. »Deine Stiefel und meine Sandalen taugen nichts. Man kann in ihnen nicht rennen oder klettern, ohne zu stolpern und hinzufallen.«
    »Recht hast du«, stimmte Sean zu. »Also suchen wir einen Schuhmacher.«
    »Wir brauchen ihn nicht zu suchen. Ich weiß, wo einer ist.«
    Während sie ohne Eile durch das frühnachmittägliche Jerusalem gingen, erzählte Suleiman Sean von seiner Kindheit. Der junge Schotte begann, einzelne Häuser und Straßen, Brücken und Bauwerke mit anderen Augen zu sehen. Es gab zwar nur einen großen Basar in Al Quds, aber in den verschiedenen Vierteln mehrere kleine Souks und Plätze, auf denen Markt abgehalten wurde. Suleiman zeigte Sean die belebten Gassen mit den Häusern, in deren Untergeschossen sich eine kleine Werkstatt an die nächste reihte.
    »Hier findest du alles, was die Menschen hier in dieser Gegend brauchen, und noch mehr von dem, was niemand wirklich braucht.« Er lachte kurz. »Wenn du geschickt feilschst, kannst du mit wenig Geld viel kaufen.«
    Seans betrachtete alles aufmerksam, um zu begreifen, wie das Leben in der Heiligen Stadt vonstatten ging. Er stellte, so gut es ging, viele Fragen und erkundigte sich auch ein zweites Mal, wenn er eine Erklärung oder Antwort nicht ganz verstanden hatte. Suleiman antwortete geduldig auf jede noch so unbeholfen gestellte Frage.
    »Wir sind am Ziel, beim Meister der Sohlen«, sagte Suleiman plötzlich und zog Sean zur Seite. Sie traten durch einen gemauerten Bogen in einen dämmerigen Raum, in dem es nach Leder, Gerberlohe, heißem Pech und Schweiß roch. Dutzende Holzteile, die abgehackten Füßen glichen, hingen an farbigen Schnüren von der Decke herab. Der Schuhmacher, ein Mann in mittleren Jahren mit dünnem Bärtchen und halb kahlem Kopf, verbeugte sich vor ihnen. Suleiman deutete auf seine und Seans Füße und redete so schnell auf den Schuhmacher ein, dass Sean kaum ein Wort verstand.
    »Setzen wir uns.«
    Der Schuhmacher zog zwei Hocker aus dem dunklen Hintergrund der Werkstatt hervor und verschwand wieder. Dann erschien er mit einem großen Korb voller Schuhe aus Stoff, Strohgeflecht und Leder in vielen Formen, Größen und Farben.
    »Wir brauchen halbhohe Schuhe zum Schnüren, und mit weicher Sohle, aber robust müssen sie sein. Sie müssen Steinen, Wasser und einer Menge Schweiß trotzen«, sagte Suleiman zu Sean. »Zieh deine Stiefel aus.«
    Sean gehorchte. Der Schuhmacher setzte sich auf einen Teppich vor ihre Füße und zog ein Paar nach dem anderen aus seinem Haufen hervor. Suleiman schüttelte den Kopf, wählte ein Paar aus, ließ es zur Seite stellen, wenn es passte, verwarf nacheinander vier Paare, redete auf den Meister ein, lachte, gestikulierte, zeigte auf Seans Zehen und sah zu, wie der ein

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