Die geheimnisvollen Pergamente
hasst und ohne dass er selbst jemanden hassen muss, der etwas anderes glaubt. Ich werde eines Tages erleben, wie meine Söhne im christlichen Glauben aufwachsen, mitten in Al Quds. Ich bin anders als mein Vater. Er wird seinem Hass ewig ausgeliefert sein.«
»Eines nicht zu fernen Tages«, antwortete Sean, »werden wir die Stadt verlassen. Dann sind wir in Sicherheit vor deinem Vater.«
»Täusche dich nicht. Die Fäden, die er spinnt, reichen weit.«
»Reden wir von der Gegenwart, nicht von der fernen Zukunft.« Plötzlich bekam Suleimans Stimme einen anderen, härteren Klang. »Dieser Bettler dort. Am Abend schleicht er in einen anderen Winkel, wo er schläft. Ich habe erfahren, dass es Bösewichter gibt, die Bettler – die Ärmsten der Armen – überfallen und ihnen das Erbettelte stehlen.«
»Du hast mir aber auch erzählt, dass es nicht gerade wenige dieser Bösewichter gibt.«
»Das stimmt. Aber im Basar und überall erzählt man, dass sie es jetzt besonders dreist treiben. Sie bestehlen die Armen. Bisher haben sie noch keinen totgeschlagen. Aber das kann sich schon heute Nacht ändern.«
»Endlich!«, rief Sean unterdrückt. »Die Schuhe! Die Kapuzenjacken! Wir sollen die Bettler beschützen, während du mir die Stadt und deine Verstecke zeigst.«
»Noch einen Stein an deinen Kopf«, sagte Suleiman lachend, »und du verstehst plötzlich alles. Allah sei Dank!«
»Mir fällt keine passende Antwort ein«, sagte Sean, der nicht wusste, ob er sich ärgern oder lachen sollte. »Aber ich werde es dir heimzahlen!«
»Du bist wahrlich kühn!«, sagte Suleiman, noch immer lachend. Er sprang von der Mauer und zog Sean mit sich. »Denk daran, dass ich ein Schüler von Abdullah bin.«
Er führte ihn, an dem reglosen Bettler vorbei, durch die Gasse und auf dem Rest einer uralten Mauer bis zu einem Torbogen, der erst vor kurzer Zeit gemauert worden war. Sean stolperte, Suleiman hielt ihn am Oberarm fest und drehte ihn vorsichtig halb herum.
»Siehst du den Jungen, dort, wo wir die Pistazien gekauft haben?«
»Ich sehe ihn. Er hat eben zu uns herüber gesehen.«
»Das ist der kleine, hakennasige Hasan. Er wird uns folgen und alles, was er gesehen hat, Abdullah berichten.«
»Dann wird es wohl Zeit, dass wir in einem deiner Verstecke verschwinden«, sagte Sean. »Worauf warten wir noch?«
»Wir warten nicht«, antwortete Suleiman. »Komm!«
20
Mitte März Anno Domini 1324 –
Rabbi Baruchs Ratschlag
Seit zwei Tagen war das Wetter umgeschlagen. Die Eiszapfen und der Schnee begannen zu schmelzen. Wasser rann durch die abschüssigen Straßen. Elazar ben Aaron, der sich von seinen Strapazen erholt hatte, hatte im Haus des Rabbi eine ähnliche Frömmigkeit erlebt wie innerhalb seiner Familie und der Synagoge zu Überlingen, aber tiefer und bewusster. Die ersten Nachtstunden im warmen Haus des Rabbi hatten seinen Schmerz gelindert; sein Leid war in die Ferne gerückt, und er erwachte immer seltener schweißgebadet nach schrecklichen Albträumen.
Er sehnte sich geradezu nach dem Geruch des frisch zubereiteten Würzweins, denn dies bedeutete allabendlich den Beginn eines Gesprächs, dessen Inhalt ihn ebenso erbaute wie dessen Ergebnis.
»Ein Ziel, Elazar, kann man auf zweierlei Weise schildern«, begann der Rabbi mit sanfter Stimme. »Ein nahes Ziel und ein fernes. Wenn du in ein anderes Land wandern willst, so musst du erst einmal den Marktplatz des nächsten Dorfes erreichen.«
Elazar sog den Duft aus dem heißen Tonbecher tief ein und antwortete: »Wenn ich Euch recht verstehe, Rebbeleben, soll ich mir ein Ziel in der Ferne suchen?«
»Du verstehst mich richtig, Elazar. Erst dann, wenn dein Herz ruhig geworden ist, wirst du handeln können, wie es unser Gott und unser Glaube verlangen.«
»Ihr schlagt eine Pilgerreise vor?«
Rabbi Baruch nickte ihm über den Rand des erhobenen Bechers zu und lächelte in seinen Bart hinein.
»Ein Ziel in weiter Ferne kann die Heilige Stadt sein, Yerushalayim. Dort befindet sich das Grab des Hohepriesters Simon. Es ist fast tausend Jahre alt. Ich habe erfahren, dass das Grab für uns Juden zugänglich ist, obwohl die Muslime über die Stadt herrschen.«
»Dorthin soll ich pilgern, Rabbi Baruch?«
»Wenn du selbst diesen Entschluss fällst, dann brich dorthin auf. Oder zu einem anderen Ziel, das du dir erwählt hast.«
»Kennt Ihr vielleicht jemanden in Jerusalem, nach dem ich mich erkundigen und der mir helfen könnte? So, wie Ihr mir geholfen habt?«
Der Rabbi
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