Die Saat der Finsternis (German Edition)
1.
Lys blickte sich um, ohne Hoffnung oder Illusionen. Hier war also seine nächste Station. Würde er hier als Sklave arbeiten, bis er tot umfiel, ohne Kirian noch ein einziges Mal sehen zu dürfen? Seinen Sohn? Seine Freunde und all jene, die von ihm abhängig waren? Die er im Stich gelassen hatte, um irgendwo in der Fremde zugrunde zu gehen? Und Kumien … Lys weigerte sich, an ihn zu denken. Der Weg hierher war anstrengend gewesen, obwohl Terk und seine Leute ihn weitestgehend in Ruhe gelassen hatten. Nach zwei Tagen und drei Nächten in Eisenschellen fühlte es sich seltsam an, ungefesselt dastehen zu dürfen. Er kämpfte mit dem Gleichgewicht, leider gab es nichts, woran Lys sich hätte festhalten können. Also versuchte er sich nicht zu bewegen, bis seine Beine sich wieder daran gewöhnt hatten, ihn zu tragen.
Ein großer blonder Mann mit einer Peitsche im Gürtel las den Brief, den die Sklavenaufseher ihm übergeben hatten. Sein neuer Mebana. Dann wandte er sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu Lys um. Er musterte ihn von allen Seiten, fühlte nach seinen Muskeln, als sei er ein Pferd, dessen Wert für den Verkauf geschätzt werden musste.
Ob Pferde sich auch so fühlen? Oder Kühe?
Er hielt den Kopf gesenkt, versuchte sich nicht einzugestehen, wie stark die Angst war, die dort in seinem Bauch wütete. Wie tief die dumpfe Düsternis der Verzweiflung sich in ihm ausgebreitet hatte, niemals zu erfahren, was mit Kirian geschehen war. Er war so müde, müde …
„Mein Name ist Pocil, ich bin der Lageraufseher. Wie du mich anzureden hast, weißt du hoffentlich“, sagte der Mann schließlich und begutachtete dabei das Brandzeichen auf Lys’ Arm. Es war noch immer schmerzhaft und berührungsempfindlich. Pocil grinste, als Lys zusammenzuckte. In seinen hellblauen Augen funkelten Intelligenz und Gier. Er schien kein so schlichtes, grobes Gemüt wie die meisten anderen Sklavenaufseher zu besitzen. Angenehm war seine Nähe dadurch trotzdem nicht. Sein Schweißgeruch stieß Lys ab, er wäre lieber geflohen, als ihm so nahe zu sein, dass er jedes Barthaar auf dem schlecht rasierten Kinn sehen konnte.
„Normalerweise schicken wir abgelegte Lustsklaven nicht in die Mine, zumindest im ersten Monat nicht. Wenn ihr ehemaliger Mebana sich bis dahin nicht gerührt hat, um sie zurückzuholen, ist es sowieso zu spät und man kann sie auch arbeiten lassen. In der Schonzeit dürfen sie uns Aufsehern dienen. Feine Sache, wir bekommen selten was Nettes zur Unterhaltung geboten.“ Er packte ihn an den Handgelenken, blickte kurz stirnrunzelnd auf die Narben an Lys’ Armen, riss ihn herum und zerrte ihm das Hemd über den Kopf. Lys war zu überrascht von der plötzlichen Attacke, um zu schreien; er erstarrte in Pocils Griff. Der Lageraufseher strich ihm über den vernarbten Rücken, was Lys sich atemlos vor Panik gefallen lassen musste.
„Du hast für die härteren Vergnügungen gedient, wie ich sehe? Denn so störrisch siehst du gar nicht aus, dass man Grund hätte haben können, dich weich zu prügeln.“ Er ließ ihn los und drückte ihm das Hemd in die Hände. Schwer atmend zog sich Lys wieder an. Auf den Gedanken, dass man ihn als Spielzeug für die Aufseher hergeschickt haben könnte, war er überhaupt nicht gekommen!
„Jammerschade, dass der Layn ausdrücklich befiehlt, dass niemand deinen hübschen Hintern anfassen darf. Jungs sind zwar nicht unsere bevorzugte Unterhaltung, aber man nimmt, was man kriegen kann.“ Pocil griff ihm zwischen die Beine, was Lys aufkeuchend ertrug. Krampfhaft hielt er den Blick zu Boden gerichtet, versuchte, sich innerlich hinter Schutzbarrieren zu verstecken. Er wollte nichts spüren und durfte sich nicht wehren.
Ich bin nicht hier, du berührst nur eine leere Hülle, ich bin nicht hier!
„Seltsam scheu für einen Lustknaben …“ Misstrauisch sah Pocil über die Schulter.
„Habt ihr von verbotenen Früchten genascht?“, rief er Terk zu, der sich schon wieder für den Rückweg rüstete.
„Bin ich lebensmüde? Wenn er irgendwem gehört hätte, gut, aber er gehört dem Layn. Maggarn hat klar gemacht, dass man die Finger von ihm lassen sollte, falls man Wert darauf legt, sie alle zu behalten.“
„Stimmt das?“, fragte Pocil Lys, der mit gesenktem Kopf nickte. Er konzentrierte sich auf die staubigen Stiefel des kräftigen Mannes, die Geräusche im Hintergrund – ein fluchender Mann in der Baracke rechts von ihnen, Stimmengewirr und Gesang von Frauen, ein weinendes Kind,
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