Die Geisel
verstehst.«
Oliver nickte ernst.
»Wenn du dich richtig entscheidest, kannst du nach Nimmerland mitkommen und dein Geschenk erhalten«, sagte Søren.
»Woher weiß ich, was das Richtige ist?«
»Man muss in sein Herz hineinblicken, Oliver. Dann kann man sich nicht irren.«
Der Junge sah Søren unschlüssig an und blickte dann auf die Glanzbilder. Offenbar hatte er Schwierigkeiten, sie richtig zu erkennen. Dann deutete er auf eines der Motive. Es zeigte Peter Pan, der sich in die Luft erhob.
Sørens Gesicht leuchtete auf. »Pack deine Tasche, denn jetzt brechen wir auf nach Nimmerland.«
Die Frühnachrichten im Radio widmeten sich der Hitzewelle, deren Ende weiterhin nicht in Sicht sei. Eine ungewöhnliche Verschiebung des Jetstreams sei für die Hitze verantwortlich, die nun schon über drei Monaten andauere. Der Nachrichtensprecher sagte, ein weiterer älterer Mitbürger sei den hohen Temperaturen zum Opfer gefallen. Insgesamt belaufe sich die Anzahl der Todesopfer durch Dehydrierung auf vierzehn Personen. Danach wurde über den Brand eines Einfamilienhauses in einem Villenviertel berichtet. Ausgelöst worden sei er durch einen Unkrautverbrenner, den der Hausbesitzer trotz des allgemeinen Feuerverbots benutzt habe.
»Zum letzten Mal, Ollie, steh endlich auf!«, rief Olivers Mutter,eine korpulente Frau in den Dreißigern.
Sie öffnete den Kaltwasserhahn der Küchenspüle und wusch sich den Rote-Bete-Saft von den Händen. Danach verschloss sie die Tupperdose mit dem frisch geriebenen Rohkostsalat und drehte sich zu ihrem Mann um, der am kleinen Esstisch in der Küche saß.
»Könntest du vielleicht raufgehen und ihn holen?«
Olivers Vater schaute verschlafen von seiner Schale Cornflakes auf. Er war unrasiert und trug ein zerknittertes, schief zugeknöpftes Hemd. Am Ende des Tisches standen eine Flagge und ein paar Geschenke. »Ist doch sein Geburtstag, Jette. Ich fahre ihn nachher zur Schule.«
»Und schnappst dir zwei Tage nacheinander das Auto? Kommt nicht infrage. Oliver, kommst du jetzt endlich!«
»Wie lange dauert denn diese Abmagerungskur noch?«, murmelte ihr Mann.
»Das ist eine Diät, und die dauert noch genau so lange, wie es mir passt.«
Sie durchquerte die Küche und eilte zur Treppe, die in den ersten Stock führte. Mit vier raschen Sprüngen hatte sie den oberen Treppenabsatz erreicht. An Olivers Tür klebte ein Zettel mit der Aufschrift Betreten verboten. Sie ignorierte den Zettel und öffnete die Tür. Im Zimmer war es erstaunlich kühl - sehr ungewöhnlich nach einer weiteren Tropennacht. Vor allem da sie Oliver eingeschärft hatte, nachts niemals das Fenster offen zu lassen; ganz gleich, wie warm es draußen war. Nicht in diesen Zeiten. Sie blickte zum Bett in der Ecke hinüber. Die Decke war zur Seite geschlagen, das Bett leer. Jette schnappte nach Luft. Warum war er nicht da? Sie spürte ihr Herz pochen. Wie ein schwerer Kolben, der von innen gegen ihren Brustkasten schlug. Als sie sich im Zimmer umsah, fiel ihr Blick auf die flatternde Gardine. Die Zugluft setzte das Mobile mit den Modellflugzeugen leicht in Bewegung. Das Fenster musste unter allen Umständen geschlossen bleiben. Sie hastete zum Fenster und schlug die Gardine zur Seite. Das Fenster stand sperrangelweit offen.
Sie blickte in den Garten hinunter und sah die zurückgelassene Leiter auf dem verdorrten Rasen. Jetzt wusste sie, was geschehen war. Jettes qualvoller Schrei schreckte ihren Mann in der Küche auf.
Der Fennec-Helikopter mit Tarnanstrich schwebte im letzten Tageslicht über die Baumkronen. Die hintere Tür stand offen; der lärmende Fahrtwind und das Knattern der Rotorblätter erfüllten das Cockpit. Der Polizeibeobachter saß in der Türöffnung und trug einen Kopfhörer. Er hatte freie Sicht über den Wald und die angrenzenden Wiesen. Mit bloßem Auge konnte er die Mitglieder der Heimatschutztruppe ausmachen, die eine lange Kette gebildet hatten und das Gelände durchkämmten. Ihr schleppender Gang verriet, dass die ganztägige Suche bei brütender Hitze sehr kräftezehrend gewesen war. Der Beobachter richtete den Blick auf das Terrain zu seinen Füßen. Er nahm die Wärmebildkamera zur Hand und spähte in Richtung Wald. Zwischen den Bäumen leuchteten rote Konturen. Die Hundestaffel war tief in den Wald eingedrungen. Durch die thermografische Bildwiedergabe sahen die Hunde wie Gespenster aus, die zwischen den Bäumen umhertanzten. Hinter ihnen gingen die Hundeführer. Der Beobachter gab dem
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