Die Geister, die mich riefen: Deutschlands bekanntester Spukforscher erzählt (German Edition)
5. Jahrhundert, der erste Bischof von Athen. Er war ein eher unbekannter Mystiker, der einen wunderschönen Text geschrieben hat, in dem er sagt, was Gott alles nicht ist: nicht das Gute und nicht das Böse, kein Gedanke und kein Geist. Alles, was wir an Begriffen erfinden, ist er nicht. Er steht über den Begriffen. Trotzdem wird er noch immer als eine Person gedacht.
Wenn die Menschen mich nach Gott fragen, rede ich mich manchmal heraus und sage, dass ich als Leiter der Parapsychologischen Beratungsstelle keine weltanschaulichen Äußerungen machen darf. Aber dennoch kann ich mich der Frage nicht wirklich entziehen. Ich glaube, dass der Mensch, so wie er ist, kein Bioroboter ist, der auf einem Stäubchen im Weltall schwebt, ohne Sinn und Verstand. Ich glaube, dass der Mensch auf etwas hinweist, und das bezeichne ich für mich als das »Numinose«. Das Numinose ist eine Frage, die so groß und nicht zu durchdringen ist, dass wir davor nur staunen können.
Der Glaube an dieses Numinose ist für mich eine Verschränkungswahrnehmung. Da ist etwas, mit dem ich verschränkt bin, auch wenn ich es nicht beschreiben kann. Mit meiner Umgebung, mit den Menschen, die ich liebe. Vielleicht mit einem Gott, ich weiß es nicht.
Als ich noch in der Schule war, bin ich einmal über den Pausenhof gelaufen. Dort lag ein zerknittertes Blatt auf dem Boden, und ich habe es aufgehoben. Es stand ein Gedicht darauf. Ich habe es gelesen und wusste nicht, von wem es ist. Es hat mich erschüttert bis ins Mark. Niemand sagte mir, dass es die »Todesfuge« von Paul Celan war, dass es um die Ermordung der Juden ging. Damals kannte ich diesen Hintergrund nicht, und ich konnte auch nicht benennen, was mich so erschüttert hat. Aber die Erkenntnis, dass es sich bei diesem Gedicht um etwas Großartiges handelt, habe ich selber gewonnen. Ich bringe das in Zusammenhang mit der Verschränkungswahrnehmung, mit der Möglichkeit, dass uns ein Kunstwerk unmittelbar anspricht, ohne dass wir es in Kategorien von Raum und Zeit zergliedern. Viele interpretieren dieses Erlebnis religiös und nennen es das Transzendente. Ich tue das nicht, weil ich nicht religiös bin. Ich glaube nur, dass es nicht von ungefähr kommt.
Die Frau am Telefon lacht. »Sie bleiben gerne vage, wenn es um die letzten Fragen geht, nicht wahr?«
»Wenn wir es doch nicht besser wissen«, entgegne ich und weise auf die fortgeschrittene Zeit hin. »Selbstverständlich«, sagt sie. »Nur eines noch: Was kommt Ihrer Meinung nach nach dem Tod?«
Ich bin gerade dabei, den Computer herunterzufahren, und atme noch einmal tief durch.
»Die meisten Leute denken«, sage ich, »es gebe zwei Möglichkeiten: Entweder man stirbt und alles ist aus, oder die menschliche Seele existiert in einem Jenseits. Beides sind Vorstellungen, die der Mensch entworfen hat, um sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Aber in meinen Augen gibt es noch eine Möglichkeit, eine, die viel wahrscheinlicher ist. Was, wenn mit dem Tod wirklich alle unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, von Vorher und Nachher verschwinden? Ich muss doch damit rechnen, dass mit dem Sterben meines Gehirns diese Kategorien verschwinden und ich einen anderen Bereich betrete, oder?«
»Vielleicht«, sagt die Frau leise und zögerlich. Der Gedanke, dass alle Dinge verschwinden, ist nicht leicht nachzuvollziehen.
»Wie dieser Bereich aussieht, weiß ich nicht. Ich will nur nahelegen, dass es ja auch einen dritten Ausgang geben könnte. Und dieser dritte Ausgang könnte ganz anders aussehen als alles, was wir bisher kennengelernt haben.«
»Das klingt gar nicht so hoffnungslos«, sagt die Frau.
»Wenn Sie so wollen«, sage ich und verabschiede mich höflich, aber bestimmt.
Ich lösche das Licht in meinem Büro in der Hildastraße und gehe durch die Nacht nach Hause.
Mehr über die Autoren
Dr. rer. nat. Dr. phil. Walter von Lucadou,
Diplom-Physiker, Jahrgang 1945, Studium der Physik und Psychologie in Freiburg i. Br. und Berlin. Von 1974 bis 1977 Assistent am Physikalischen Institut der Universität Freiburg i. Br.; von 1977 bis 1979 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kiepenheuer-Institut für Solarastronomie, Freiburg i. Br.; von 1979 bis 1985 wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für Psychologie und Grenzgebiete der Psychologie der Universität Freiburg i. Br. und von 1985 bis 1987 Gastprofessor am Parapsychologischen Laboratorium der Universität Utrecht (Niederlande), einschließlich eines Forschungsaufenthaltes (auf
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