Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Fehsenfeld damals gedacht. Man wird sehen. So stehen die beiden auf dem Oberlößnitzer Bahnhof Weintraube: lächelnd, freundlich, neugierig aufeinander, ein wenig lauernd, jeder mit dem Wunsch, mit dem anderen das große Geschäft zu machen. Oh ja, nun endlich, das große Geschäft. Beide haben es nötig. Der Verleger wie der Autor. Damit hat sie angefangen, die große Zeit … auf diesem Bahnhof.
Geben Sie her, mein lieber Persicke, ich weiß schon …
Wi … wissen Sie, Herr Doktor, stottert der Postmann, vor zehn Jahren hab ich mir das Buch selber gekauft. Musste sogar anstehen dafür, in der Buchhandlung Lachmann, in Dresden, am Neumarkt. Da war ich vierunddreißig und seit zwei Jahren verheiratet. Und jetzt will ich das Buch meinem Bub schenken, dem August, morgen wird er elf Jahre alt. Er liest schon ganz ordentlich. Ja, sehr ordentlich, Persicke nickt zu seinen Worten, und er ist schon sehr verständig. Ihre Winnetou-Geschichte, Herr Doktor, die ist, die ist wirklich, sie ist so … August wird sie verstehen. Vor ein paar Tagen hab ich ihn erwischt. Wissen Sie, ich hatte das Buch im Wäscheschrank versteckt, da kam er aus unserer Schlafstube geflitzt, ich wette, er hat schon heimlich in dem Buch gelesen. Persicke wirkt gerührt, er findet nicht die rechten Worte. Ob Sie etwas hineinschreiben könnten? Bitte, lieber Herr Doktor. Seien Sie so gut.
Karl May nickt, schaut sich noch einmal nach den Hunden um, die wie wild an der Pforte kratzen. Seelchen, Geistchen, nun lasst den Unsinn! Ich komm ja gleich …
Also gut, Persicke, da schreib ich Ihrem August etwas Aufbauendes hinein, wenn er, wie Sie sagen, schon so verständig ist. Und er kritzelt mit dem Stift des Postbeamten auf das Vorsatzblatt einen Sinnspruch, ein ganzes Gedicht, es dauert eine Zeit, May kritzelt eine ganze Weile, aber er blickt nicht auf, er kennt den Text, dann unterschreibt er, kaum leserlich, mit Karl May. Den „Doktor“ hat er weggelassen.
Oh, tausend Dank, lieber Doktor, sagt der Postler Persicke, als er das Buch zurücknimmt. Schnell steckt er es weg, beinahe hastig, fast so, als fürchte er, May würde es sich anders überlegen, den Spruch durchstreichen oder etwa herausreißen. Dann verabschieden sich die Männer. Sogar die Hände geben sie sich.
May geht zur Pforte, drückt auf den Knauf, lässt die winselnden, drängelnden Hunde durch, geht, offenbar in Gedanken, mit gesenktem Kopf auf die Haustür zu, während sich der Postbeamte Persicke, die Tasche geschultert, auf der Straße mit raschem Schritt entfernt.
Doch kaum ist er um die nächste Ecke, bleibt er stehen, schaut sich prüfend, fast ängstlich um, reist die Tasche auf, nimmt das Buch heraus und liest den Spruch:
Es wird ein Engel dir gesandt,
um dich durchs Leben zu begleiten.
Er nimmt dich liebend an der Hand
und bleibt bei dir zu allen Zeiten.
Er kennt den Weg, den du zu gehen hast,
und trägt mit dir der Erde Leid und Last.
Es wird ein Engel dir gesandt,
dem sollst du dich gern anvertrauen.
Auf ihn soll stets und unverwandt
das Auge deiner Seele schauen.
Er trägt zu deinem Schutz das Schwert des Herrn
und ist dir nie mit seiner Hülfe fern.
Es wird ein Engel dir gesandt,
dem sollst du niemals widerstreben,
Und hast du ihn vielleicht verkannt,
so zwing ihn nicht, dich aufzugeben,
Denn bautest du auf deine Kraft allein,
es würde nur zu deinem Unglück sein.
lieber August, lass meinen Winnetou diesen Engel sein,
Karl May
Die Unterschrift, wie gesagt, kaum leserlich, ein Gekrakel, mehr zu erahnen, als zu lesen. Aber immerhin. Persicke atmet bewegt, ehe er weitergeht. In seinen Augen sammeln sich Tränen. Es ist der Wind, denkt er, und er wischt sie nicht weg, der Wind, ja. Wie stolz wird Ernestine, seine Frau, sein, und das Söhnchen erst, der kleine August. Persicke, der Postbeamte, geht die Straße weiter. An diesen Tag will er denken, beschließt er, noch lange denken. Im Kalender will er ihn sich eintragen, mit rotem Buntstift.
Auch Karl May, kaum war er in den Vorgarten getreten, und noch unter dem schützenden zierlichen Vordach des Hauseinganges stehend, da hat er mit fast den gleichen hastigen Bewegungen, wie vorn an der Ecke der Postbeamte Persicke seine Umhängetasche aufriss, in die Seitentasche seines weißen Überrockes gegriffen, um jenen Brief herauszuholen, den er dem Postboten quittieren musste. Wie ärgerlich, durch dessen Gerede und die Aufdringlichkeiten ist er gar nicht dazu gekommen, den Absender zu entziffern, er hat
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