Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
entstanden. Die Sokolewna nahm uns Kinder bei der Hand. Kommt, sagte sie streng, wir gehen nach Hause. Mir ist die Lust zum Spazierengehen vergangen. Den Jungen mit den wertvollen Händen sah ich mit seiner Großmutter auf der anderen Straßenseite, auch sie schienen nicht mehr weitergehen zu wollen, waren umgekehrt und liefen nun in entgegengesetzter Richtung davon. Ich blickte ihm nach. Zu gern hätte ich gewusst, wer er war. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Inzwischen waren auch der Zar und seine Begleitung zu Fuß weitergegangen. Langsam folgten ihm die Reiterstaffel und die Polizei. Auf einmal, der ganze Trupp mochte sich vielleicht zweihundert Meter entfernt haben, hörten wir erneut einen lauten Knall sowie heftiges Schreien und Jammern. Ein zweiter Attentäter war in der Menge, die auf dem Fußweg neben dem Herrscher neugierig herlief, untergetaucht und hatte einen Sprengsatz nach ihm geworfen. Diesmal wurde er getroffen. Der Zar ging zu Boden. Es hatte ihm die Beine zerfetzt. Er starb kurze Zeit später.
Dieses Erlebnis, mein lieber Doktor, sagte der Maler und warf einen starren Blick auf das Bild vor sich, dieses Attentat hat auf mich einen nachhaltigen Eindruck gemacht. Tagelang konnte ich keinen Schlaf finden. Immer wieder stellte ich mir den armen Zaren vor, wie er mit seinen blutigen Beinstümpfen in seinem Zarenbett lag. Doch später, die Sache ließ mich nicht mehr los, Jahre später, als ich erfuhr, welche Gräuel von dem Regime des Zaren ausgegangen waren, glomm in mir eine Art Sympathie für die Attentäter auf. Ja, ich schäme mich nicht zu sagen, der Tyrannenmord, wie ihn Schiller heroisiert, erschien mir als eine legitime Sache. Und bis heute bin ich ein Verächter allen Tyrannentums, aller unterdrückenden Gewalt geblieben. Schneider machte eine Pause, weil er sah, wie nachdenklich sein Gast geworden war, er nahm das Bild, legte es wieder in die große, graue Mappe und blieb schweigend vor Karl May stehen.
Da wurde an die Tür des Ateliers geklopft. Die Schwester Lilly rettete die Situation. Sie kam mit dem Tee und einem Tablett herein. Als sie die beiden so schweigend beieinander sah, stutzte sie, setzte das Tablett ab. Na, der Tee, meine Herren, wird die Gemüter wohl wieder zum Ausgleich bringen. Lasst ihn nicht kalt werden. Ein paar Kekse, selbst gemachte, hab ich dazugelegt. Sie knickste, und da sie auch eine weiße Schürze umgebunden hatte, sah sie wie eine echte Hausangestellte aus. Von der Tür aus warf sie ihrem Bruder noch ein verschmitztes Lächeln zu, dann verschwand sie. Schneider nahm das Wort als Erster.
Kommen Sie, verehrter Herr May, sagte er und er ergriff etwas verlegen seine runde Brille, um sie zu putzen. Lassen Sie uns auf all das Gesagte gleich einen russischen Tee trinken. Er stieß ein trockenes Lachen aus, füllte die Tassen, stellte sie beinahe andächtig auf ein kleines Tischchen. Es war schönes, altes, bemaltes Porzellan mit grazilen Henkeln, kleinen Blümchen und goldenen Verzierungen. Das sind Erbstücke, mein lieber Doktor, echtes Petersburger Porzellan, sogenanntes Zarenporzellan aus der Werkstatt von Winogradow. Gehen Sie bitte vorsichtig damit um, ha, ha … Der Samowar, ein echter und wie das Porzellan noch von meinem Großvater, steht in der Küche, Sie können ihn gerne besichtigen, in Deutschland ein seltenes Gerät, für Lilly allerdings ist er zu schwer, deshalb hat sie ihn nicht hereingebracht.
Man trank zuerst schweigend. Der Tee war stark und hatte ein angenehmes Aroma. May griff nach dem kandierten Zucker, der in einem zierlichen Porzellanschälchen bereitstand. Er beobachtete, wie sich die braunen Kristalle auflösten, dann sagte er leise und mit ein wenig heiserer Stimme: Was Sie, mein lieber verehrter Herr Schneider, da soeben über Tyrannei und die Unterdrückung, und damit über die Intoleranz und den menschlichen Dünkel gesagt haben, hat mich in tiefstem Maße berührt. Ich sitze, müssen Sie wissen, gerade über einem Buch, welches „Und Friede auf Erden“ heißen soll. Unsere Regierung wird es nicht lieben, doch darauf kommt es gar nicht an. Es soll der Menschenliebe und dem Menschenfrieden dienen, und zwar auf ganz und gar aktuelle und markante Weise. Denken Sie nur an die Ereignisse in China …
Der Maler wiegte den Kopf hin und her, hielt die Teetasse vor dem Mund und machte den Eindruck, als ob er in tiefes Nachdenken versunken sei. Wenn es nur so leicht wäre mit dem Frieden, sagte er nach kurzem Zögern, er denke vielmehr,
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