Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Dreiviertelstunde stehen geblieben. Ich konnte mich einfach nicht losreißen. Und auch meiner Klara ging es so. Wir standen und staunten. Eine geschlagene Dreiviertelstunde lang. Die Saaldiener schauten schon misstrauisch. Einer kam heran, sprach mich an, denn leider, überall bin ich bekannt. Herr Doktor May, flüsterte er mir ins Ohr, ist etwas mit dem Bild nicht in Ordnung? Oder stört das Licht? Ich schüttelte den Kopf und starrte weiter auf Ihr Gemälde. Sie erraten es, mein Lieber? Es war Ihr Bild „Das Gefühl der Abhängigkeit“. Da haben Sie ein wahres Meisterwerk geschaffen. Ein kolossales Gemälde! Enorm! Gewaltig! Das Beste, was ich in jüngerer Zeit gesehen habe. Wenn man davor steht, ist man wie gebannt, wie gelähmt. Auch meiner Klara ist es genauso ergangen. Übrigens, sie wäre gern mitgekommen, aber bei so einem Erstbesuch … eine Dame. Das schickt sich wohl nicht.
Der Maler blickte mit seinen Raubvogelaugen scharf auf seinen Besucher, in den Mundwinkeln zuckte es. Man konnte nicht genau ausmachen, was das Mienenspiel bedeutete – war es Stolz oder Misstrauen oder gar Ironie. Ein seltsamer Herr, dachte indes Sascha Schneider, sein Gegenüber weiter musternd, aber ungemein sympathisch und einnehmend. Ein gutaussehender älterer Herr. Er gefällt mir.
In diesem Moment, die Männer waren während ihres Gespräches im weiten Flur stehen geblieben, öffnete sich eine Seitentür und eine junge Frau erschien, auch sie klein, mit rötlich braunem Haar, das sie, zu einem Zopf geflochten, im Nacken trug; auch sie mit diesen hellen graublauen Augen. Oh, meine Schwester Lilly! rief der Maler. Wir wohnen hier seit drei Jahren zusammen. Darf ich sie Ihnen vorstellen? Man machte sich bekannt. Stell dir vor, wie peinlich, rief der Maler, ich wusste nichts von Herrn May und habe bisher auch nichts von ihm gelesen.
Das ist wieder mal typisch! lachte die Schwester, kennt den berühmten „Old Shatterhand“ nicht, den berühmtesten aller Westmänner. Jedes Kind weiß vom Indianerfreund mit dem Henrystutzen, Bärentöter und der „Schmetterhand“. Typisch, mein Bruder! Oh, ich sage Ihnen – diese Maler! Ungebildet sind die, außer ihren Farben und den Leinwänden und natürlich ihren Modellen (hier hob sie die Augenbrauen und lächelte) kennen sie nichts. Ich hab fast alles von Ihnen gelesen, lieber Herr May, rief die kleine junge Dame mit Begeisterung, wirklich fast alles. Sogar Ihren letzten „Silberlöwen“! Der war ein wenig anstrengend. Frauen sind ja, wie ich hörte, ihre allertreuesten Leser. Ach, wie freu ich mich, Sie endlich einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Karl May war bei diesen Worten in selbstgefälliges Schweigen verfallen. Er lächelte und sah den Maler triumphierend an. Sehen Sie mein Lieber, mochte dieser Blick besagen, sehen Sie, wer und wie bekannt ich bin!
Jaaa, meine Schwester Lilly, antwortete Schneider gedehnt und rückte an seiner Brille, unsere Lilly, die weiß alles.
Und nun kommen Sie, er machte an Karl May gewandt eine einladende Armbewegung, lassen Sie uns ins Atelier gehen. Da fühl ich mich sicherer. Das ist mein liebster Ort auf Erden. Hier, bitte, die Treppe hinauf … Vorsicht, die Stufen sind etwas uneben.
Er ließ einen Seufzer hören. Seiner Schwester rief er zu: Machst du uns bitte einen Tee, Lilly? Und zu seinem Gast: Sie trinken doch schwarzen Tee, Herr Doktor? Bei uns gibt es immer den echten russischen Kusmi. Direkt aus St. Petersburg importiert. Mein Vater hat den alten Kusmitschoff noch persönlich gekannt … jaaa, persönlich! Bei diesen Worten zuckte der Maler plötzlich ganz seltsam mit den Händen. Aber die Erscheinung dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und verschwand sofort wieder. Karl May übersah diesen Tick, er lächelte, murmelte leise, ja Tee trinke er gern, wobei er auf seinen Reisen die außergewöhnlichsten Teesorten kennengelernt habe. Sie glauben ja gar nicht, mein lieber Schneider, was man zum Beispiel in Persien für blumige, aromatische Tees angeboten bekommt …
Schneider blickte scharf auf seinen Gast, antwortete indes nichts, sondern öffnete, nachdem man oben angekommen war, eine große Doppeltür und sie betraten den riesigen Atelierraum des Malers. Helles Licht flutete aus einem Oberlicht wie auch von zwei großen bis auf den Fußboden reichenden Seitenfenstern herein. Sie zeigten hinaus in den halb verwilderten Garten. Haselnusssträucher, Goldregen, Topinambur, dazwischen ein paar Nadelbäumchen, mannshohe Gräser
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