Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
der Friede brauche vor allem Kraft und Bewaffnung, nur wer stark sei, könne in Frieden leben, und wenn es viele Starke gäbe, dann sei der Frieden umso sicherer und in guten Händen. An seinen Gestalten, die er auf der Leinwand und dem Karton erschaffe, könne man sehen, was er meine: Kraft und Schönheit bringe Frieden und Harmonie in die Welt! Ist es nicht so, lieber May? fragte er und setzte die Tasse ab, und da Karl May nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: obwohl ich Ihre Bücher noch nicht kenne, glaube ich, Ihr Schaffensprinzip ist ein ähnliches. Sind Ihre Gestalten nicht auch Kraftmenschen? Schön von Gestalt und mit der Faust … Er brach ab, lächelte, machte mit seiner Hand die Bewegung, mit welcher sich sein Gast als „Old Shatterhand“ vorgestellt hatte.
Der Angesprochene hob den Kopf und warf seinem Gegenüber einen langen, nachdenklichen Blick aus seinen tiefblauen Augen zu. Sie schienen aufzuleuchten, als er antwortete: Sie haben ganz recht, mein Lieber. Aber eines haben Sie vergessen. Es kommt darauf an, dass das Gute im Menschen zum Siege kommt – das ist das Entscheidende! Ohne Güte nützt alle Kraft nichts. Es muss um das Gute und seinen Sieg in uns gehen, und darum, dass der Dämon, der Teufel, nicht die Oberhand gewinnt – sonst ist alles vergebens. Denn dieser Teufel, so habe ich erst vor ein paar Tagen in meinem neuen Buch geschrieben, dieser Teufel ist es, der die Menschen und Völker immer vorwärts drängt, um neuen Raum zu gewinnen, zu großen Taten anspornt, dabei aber auf dem Alten, Wohlerworbenen keinen Frieden und Segen aufkommen lässt. Verstehen Sie mich, lieber, lieber Freund?
May ergriff nun auch seine Tasse und trank einen langen kräftigen Schluck. Wirklich, ein guter Tee! Und tatsächlich ein bisschen wie der persische, der an den Ausläufern der Dailaman-Berge wächst, sagte er und lehnte sich zurück. Wissen Sie, ich lernte diesen Tee schätzen, als ich mit meinem lieben kleinen Hadschi, der nun auch schon eine Zeit lang nicht mehr unter den Lebenden wandelt (May seufzte), in Lahijan weilte, dieser Stadt, welche das persische Zentrum des Teeanbaues ist. Sie liegt unweit von Ramsar. Wir waren gerade auf dem Rückweg gewesen, hatten die Hauptstadt Westazarbaidjans verlassen und am Anhang des Kuh-e Sahand das Bergdorf Kandovan, ein malerisches Dorf, das für seine Höhlenwohnungen im Tuffstein bekannt ist, besichtigt. Es liegt, müssen Sie wissen, etwa 50 km südlich von Täbris. Anschließend besuchten wir in Maraghe die Grabtürme aus seldjukischer und mongolischer Zeit und in Bonab die alte bekannte Moschee. Wunderbare Anlagen, die Ihr Malerherz erfreuen würden. Dann waren wir nach Takab weitergereist. Und als wir schließlich auf verschiedenen Umwegen und kleineren Abstechern in Lahijan angekommen waren, da haben wir an manchen Tagen zwölf verschiedene Teesorten probieren müssen. Aus reiner Höflichkeit, ha, ha, ha … Unser Gastgeber war nämlich ein bekannter Teehändler. Wir konnten es mit ihm nicht verderben, unsere Geldbeutel waren in beklagenswertem Zustand. Also tranken wir seinen Tee. Ich redete viel mit ihm, versprach in Europa ein gutes Wort für seine Waren einzulegen. Glauben Sie mir, so viel Tee habe ich niemals wieder in meinem Leben getrunken und der kleine Hadschi, der doch ein ausgemachter Kaffeetrinker war, klagte über verschiedenste Beschwerden. Niemals wieder Sihdij, jammerte er am Abend zu mir, nie würde er in seinem Leben wieder Tee trinken und seiner Hanneyh werde er verbieten, dieses heuartige Gebräu zuzubereiten. Ich beruhigte ihn, aber auch mir war die Zunge schon ganz rau und pelzig geworden …
May lächelte und blickte ein wenig lauernd auf seinen Gastgeber. Der Maler hatte ihm aufmerksam zugehört, dann schmunzelte er und fragte in seiner direkten Art: Er solle also unbedingt den „Silberlöwen“ lesen, wenn er etwas über Persien erfahren wolle?
Gewiss, antwortete May und goss sich mit sichtlichem Behagen aus dem Kännchen nach, griff mit spitzen Fingern ein paar braune Zuckerstücke. Sie werden alles über Persien lernen, aber noch mehr über unsere Menschenseele und deren Abgründe, denn während ich den „Silberlöwen“ schrieb, habe ich meine eigentliche Berufung entdeckt. Seither bin ich ein ganz anderer geworden, glauben Sie mir, mein Lieber, ein ganz anderer. Doch ich will nicht zu viel verraten. Einer wie Old Shatterhand hält nicht viel vom Reden! Lesen Sie also selbst. Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen ein
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