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Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)

Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)

Titel: Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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war. Obwohl sie von ihrer Mutter nie etwas anderes bekommen hatte als Schläge, weinte sie. Sie weinte um ihren Vater, der zehn Jahren zuvor gestorben war, um ihre von Leid geprägte Kindheit, um die Zärtlichkeiten, die sie nie erhalten, das Lachen, das sie nie mit jemandem geteilt, die Komplimente, die ihr nie jemand gemacht hatte, um diese ganze Leere, die so schrecklich wehtat. Sie fühlte sich wie eine Waise. Dann wurde ihr klar, dass sie jetzt tatsächlich eine Waise war, und sie weinte noch bitterlicher. Es war, als holte sie die verlorene Zeit nach: Als Kind hatte sie nie weinen dürfen. Sobald sie auch nur das Gesicht verzog, zischte eine Ohrfeige durch die Luft und ließ ihre Wange brennen. Sie verstand, dass sie durch ihre Tränen dem kleinen Mädchen, das niemals hatte weinen können, die Hand reichte, dass sie es auf diese Weise trösten, es in die Arme nehmen und ihm einen kleinen Platz an ihrer Seite geben konnte. Komisch, dachte sie, es kommt mir vor, als gäbe es mich doppelt: die raffinierte, entschlossene Josiane von achtunddreißig Jahren, die das Leben im Griff hat, nicht auf sich herumtrampeln lässt, und die andere, das kleine ungeschickte Mädchen mit dem verschmierten Gesicht, das vor lauter Angst, vor lauter Hunger, vor lauter Frieren Bauchschmerzen hat. Durch ihre Tränen brachte sie die beiden wieder zusammen, und dieses Wiedersehen tat so gut.
    »Was ist denn hier los? Meine Güte, ist Ihr Schreibtisch neuerdings die Klagemauer? Das Telefon klingelt, hören Sie das nicht?«
    Stocksteif und mit einem großen pfannkuchenförmigen Hut auf dem Kopf stand Henriette Grobz vor Josiane und starrte sie grimmig an. Josiane bemerkte, dass tatsächlich das Telefon klingelte. Sie wartete einen Moment, und als es verstummte, zog sie ein gebrauchtes Papiertaschentuch aus der Tasche und putzte sich damit die Nase.
    »Es ist wegen meiner Mutter«, sagte sie schniefend. »Sie ist gestorben…«
    »Ja, das ist traurig … Aber wir verlieren alle früher oder später unsere Eltern, damit muss man rechnen.«
    »Das ist es ja gerade! Sagen wir, ich hatte nicht damit gerechnet …«
    »Sie sind doch kein kleines Kind mehr. Reißen Sie sich gefälligst zusammen. Wo kämen wir denn hin, wenn alle Angestellten ihre privaten Probleme mit in die Firma brächten?«
    Gefühle am Arbeitsplatz sind ein Luxus, den sich nur Vorgesetzte leisten können, dachte Henriette Grobz, nicht die Angestellten. Soll sie ihre Tränen doch bis heute Abend zurückhalten, zu Hause kann sie heulen, so viel sie will! Sie hatte Josiane noch nie gemocht. Ihr missfiel ihre dreiste Art, ihr wiegender, geschmeidiger Gang, ihre füllige, katzengleiche Gestalt, ihr schönes blondes Haar und ihre Augen. Oh, ihre Augen! Aufregend, kühn, lebhaft und manchmal durchscheinend und voller Sinnlichkeit. Sie hatte Chef oft aufgefordert, sie zu entlassen, aber er weigerte sich.
    »Ist mein Mann da?«, fragte sie Josiane, die sich mit verstockter Miene wieder aufgerichtet hatte und so tat, als beobachtete sie eine Fliege in der Luft, um diese abscheuliche Frau bloß nicht ansehen zu müssen.
    »Er ist oben, aber er kommt gleich wieder. Sie können in seinem Büro auf ihn warten, es kann nicht mehr lange dauern … Den Weg kennen Sie ja!«
    »Etwas mehr Respekt, Kleines. Ich dulde nicht, dass Sie in diesem Ton mit mir reden …«, erwiderte Henriette Grobz so herrisch, dass es Josiane einen Stich versetzte.
    Sie fuhr auf wie eine gereizte Klapperschlange.
    »Und Sie nennen mich gefälligst nicht Kleines. Ich bin Josiane Lambert und nicht Ihre Kleine … Zum Glück! Da könnte ich mich ja gleich begraben lassen.«
    Ich mag ihre Augen nicht, dachte Josiane. Ihre kleinen, kalten, harten, geizigen, misstrauischen, berechnenden Augen. Ich mag ihre schmalen trockenen Lippen nicht, diese weißlichen Mundwinkel. Die Frau hat Gips im Mund! Ich hasse es, wenn sie mit mir redet, als wäre ich ihre Putzfrau. Was hat sie denn groß geleistet? ’Nen netten Kerl
geheiratet, der sie aus dem Dreck gezogen hat! Die hat ihren Arsch ins Warme gerettet, aber wer weiß, irgendwann dreh ich ihr noch die Heizung ab. Wer zuletzt lacht, lacht am besten!
    »Sehen Sie sich vor, meine kleine Josiane! Ich habe durchaus einen gewissen Einfluss auf meinen Mann, und ich könnte zu dem Schluss kommen, dass für Sie kein Platz mehr in dieser Firma ist. Sekretärinnen gibt es wie Sand am Meer. Wenn ich Sie wäre, würde ich meine Zunge im Zaum halten.«
    »Und wenn ich Sie wäre, wäre

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