Die Geliebte des Gelatiere
feiner und raffinierter als die anderen. In Manhattan geboren, in Brooklyn aufgewachsen, hatte sie von der Welt schon mehr gesehen als wir alle zusammen. Sie wirkte fragil, nervös und kränklich, aber ihre strahlenden Augen und ihr Lächeln nahmen mich rasch für sie ein. Auch auf die Gefahr hin, als Mädchenschmecker dazustehen, tat ich alles, damit sie sich schnell zurechtfand.
Dass ich zurückhaltend und schüchtern war, schien sie nicht zu stören. Nach einer ersten Phase des Kennenlernens bekam ich das Gefühl, dass sie mich mochte. Ich glaube, sie bewunderte mich, auch wenn mir nicht klar war, warum. Vielleicht bewunderte sie mich nur, weil ich im Rechnen oder Schreiben ein bisschen weiter war als die anderen. Aber ich denke, so banal war es nicht. Es lag eine verborgene Zärtlichkeit in ihren Blicken und Gesten. Endlich hatte ich einen Freund in der Klasse. Dass es ein Mädchen war, störte mich nicht mehr.
Noemi wurde von der Klasse reserviert aufgenommen. Man respektierte sie, weil sie etwas Vornehmes ausstrahlte. Da sie fließend Englisch sprach, fühlten sich manche unterlegen und verunsichert. Sie war immer freundlich, trotzdem fanden die meisten sie kühl, hochmütig und arrogant. Sie war nicht das, was ein Mädchen aus dem Cannaregio zu sein hatte. Es tat mir weh, dass die anderen sie nicht ins Herz schlossen, aber irgendwie war es mir auch recht, denn so konzentrierte sie sich umso mehr auf mich.
Meist gingen wir nach der Schule zusammen nach Hause. Sie wohnte ganz in der Nähe. Manchmal besuchte sie mich, aber nur, wenn meine Eltern nicht da waren. Ich weiß nicht, ob aus Schüchternheit oder Intuition. Wenn meine Mutter aus dem Fenster schaute, kam sie auf keinen Fall mit hoch. Auch zu ihr nach Hause durfte ich nie, wahrscheinlich, weil ihre Mutter meist daheim war.
Ich war oft krank, was meine Mitschüler auf den Schaden zurückführten, den ich als Einzelkind haben musste, und meine Lehrer zu penetranten Anrufen bei meinen Eltern verleitete. Nachdem man mir im Ospedale Civile die Mandeln entfernt hatte, lag ich einige Tage zu Hause im Bett. Natürlich hatte ich vor der Operation große Angst gehabt. Ich kann mich erinnern, wie ich, an Händen und Füßen an einen Stuhl festgegurtet, einen orangen Luftballon gezeigt bekam, nach dem ich greifen wollte, die Farbe hatte ich zuvor auswählen dürfen und hatte mich für meine zweitliebste Farbe entschieden. Ich griff also nach dem Ballon, und während ich griff, presste mir eine Hand von hinten eine Maske auf das Gesicht, aus der Gas strömte, so dass ich keine Luft mehr bekam, in Panik geriet, mich loszustrampeln versuchte und dachte, die bringen mich um. Die Operation verlief nach Plan.
Auf dem Wassertaxi zurück an den Rio della Misericordia kotzte ich, was meine Mutter beschämte. Auch zu Hause hatte ich weiter Brechreiz und Halsweh. Mein Vater witzelte, ich müsse aufpassen, dass ich nicht ins Ospedale degli Incurabili käme, ins Hospiz der Unkurierbaren, dessen Name mich immer so erschreckt hatte, dass ich nie gewagt hatte, auch nur daran vorüberzugehen. Irgendwie hingen für mich die Wörter »Incurabile« und »Einzelkind« zusammen, auf andere Weise allerdings, als meine Mitschüler dachten.
An einem dieser Nachmittage nach der Operation, als Vater seinen Vaporetto steuerte und Mutter im Coiffeursalon arbeitete, besuchte mich Noemi. Der Arzt hatte mir geraten, ich solle viel Eis essen, das sei gut gegen das Halsweh, und so brachte sie zwei riesige Gelati mit, das eine mit Zitrone und Orange, das andere mit Vanille und Stracciatella. Weil ich Vanille über alles liebte, nahm ich die Waffel mit dem Vanilleeis. Sie hatte gewusst, dass ich Vanille nicht widerstehen konnte und auch Stracciatella besonders mochte. Ich fand, dass auch sie nach Vanille roch, aber das hätte ich ihr natürlich nie gesagt.
Ich saß aufrecht in meinem Bett, Noemi auf einem Stuhl daneben. Wir freuten uns an dem Eis, und sie freute sich über meine Begeisterung für Vanille und die Überraschung, die ihr gelungen war. Wir hielten unsere Gelati in der Hand und schauten auf den Hafen und die farbigen Schiffe, die ich aus Lego gebaut hatte.
Noemi wartete ein wenig, ließ das Gelato anlaufen, damit es sein ganzes Aroma entfalten konnte, und begann erst, als es schon zu rinnen und auf ihren Rock zu tropfen drohte, behutsam daran zu lecken. Langsam und genüsslich leckte sie an der Limonenkugel. Mit allergrößter Vorsicht behandelte sie das Eis, als wäre es etwas
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