Die Geliebte des Gelatiere
veränderte sich mit einem Mal ihr Ausdruck, ihr Gesicht, ihre Lippen zogen sich zusammen, als quälte sie ein schmerzlicher Gedanke.
»Glaubst du, dass Eltern von Einzelkindern sich nicht wirklich mögen?«, fragte sie.
Ich hielt einen Moment inne. Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte.
»Hat dir das auch dein Onkel erzählt?«
»Nein, die Mutter einer Freundin in Amerika hat mir das mal gesagt. Ich war so traurig, ich hatte fast keine Luft mehr zum Atmen. Ich musste daran denken, dass meine Eltern tatsächlich wie Hund und Katze sind, sehr verschieden, sehr streitlustig. Aber dann sind sie auch wieder wie gute Freunde.«
Ich überlegte, wie es bei meinen Eltern war, und fand, dass es ähnlich war.
»Ich glaube nicht, dass man solche Regeln aufstellen kann«, sagte ich trotzig. Ich war wütend auf diese amerikanische Mutter. Sie war bestimmt die Mutter eines Mehrfachkindes. »Und ich verstehe nicht, warum die Mutter deiner Freundin dir das gesagt hat.«
Noemi sah auf ihre Hände. Dann legte sie mir die rechte auf die heiße Stirn. Es war das erste Mal, das mich ein weibliches Wesen, abgesehen von meiner Mutter und meinen Tanten, auf diese Weise berührte. Ich spürte, dass irgendetwas Verrücktes mit mir passierte, ich war verwirrt und hätte zugleich zerspringen können vor Freude. Es waren nur drei, vier Sekunden, während denen ihre Hand auf meiner Stirn lag, aber in diesen paar Sekunden öffnete sich mir eine neue Welt. Als Noemi ihre Hand wegzog, war ich völlig durcheinander. Ich
wusste, dass ich da wieder hin wollte, ich brannte darauf, ihre Hand wieder zu spüren, die Wärme ihrer Finger. Zugleich war ich auf seltsame Weise traurig und musste beinahe weinen.
Meine Stirn muss sehr heiß gewesen sein, fiebrig, so dass Noemi fand, ich solle mich ein wenig ausruhen und schlafen. Aber wie hätte ich schlafen können, in diesem Zustand? Sie verabschiedete sich und ging nach Hause.
Als ich nach zehn Tagen wieder in die Klasse kam, war der Stuhl neben mir leer. Ich dachte zuerst, dass Noemi krank sei, aber dann sagte mir die Lehrerin, dass Noemis Familie in die Staaten zurückgekehrt sei, dass sie ganz unerwartet mit ihren Eltern nach New York geflogen sei. Ich war bestürzt. So plötzlich Noemi aufgetaucht war, so plötzlich war sie auch wieder verschwunden. Kaum noch hatte ich dieses Glück gespürt, den sanften Druck ihrer warmen Hand. Verloren starrte ich im Spiegel auf meine Stirn, auf der ihre Hand gelegen hatte, und sperrte mich in meinem Zimmer ein.
In meinen Tagträumen roch ich noch lange Noemis Vanilleduft, spürte ihre sanfte Berührung, die anders war als jede andere Berührung zuvor und jede Berührung danach. In meinem Herzen war nur Platz für sie. Aber sie war fort. Es war furchtbar, ohne sie in diese Klasse von Beißern und Barbaren zurückzukehren, in der ich von Stunde an der Mädchenschmecker war.
2
Wie man auf Schlamm eine Stadt bauen kann, die nicht versinkt, diese Frage hat mich schon als Kind beschäftigt. Meine Eltern erzählten mir auf meine Fragen die Geschichte von den Millionen Pfählen, die unsere Vorfahren in den Boden gerammt hatten. Die Geschichte von den Eichenholzgittern und den Pfahlwerken aus Ulme, die die Basilika von San Marco trugen. Die Geschichte von den venetischen Alpen, den Wäldern des Cadore, wo man Lärchen, Erlen, Eichen und Kiefern gefällt hatte, um sie hierherzuflößen und mit riesigen Ambossen kopfüber in den Untergrund zu treiben. Aber es kam mir immer seltsam vor, auf umgedrehten Bäumen zu gehen, über einen auf den Kopf gestellten Wald. Nie habe ich wirklich begriffen, warum diese zehn Meter langen, dreißig Zentimeter dicken Stämme im Wasser nicht faulen. Die Erklärung, dass der Schlick die Stämme schütze, sie einkleide und quasi zu Stein werden lasse, hat mir nie eingeleuchtet.
Aber nicht nur der Untergrund der Stadt erschien fiktiv, auch mein eigener Boden, meine eigenen Eltern, es schien mir, als ob sie nicht meine richtigen Eltern wären, sondern Schauspieler, die meine Eltern spielten. Denn wie konnte jemand, der die neuen Eisaromen nicht mochte, mein Vater sein? Auch wenn ich stolz auf ihn war, wenn ich ihn auf dem Canal Grande sah, in seiner schicken Uniform am Steuer des Vaporetto. Aber seine Vorliebe für Militärisches oder seine Abneigung gegen alles Moderne mochte ich nicht. Meine richtigen Eltern vermutete ich irgendwo im Universum. Überirdisch
ätherische Wesen, die meine Erziehung aus Sternenferne leiteten und mich
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