Die Geliebte des Gelatiere
in irdische Obhut gegeben hatten, aus was für Gründen auch immer.
Selbst Noemi erschien mir nach ihrem Verschwinden wie eine Fiktion. Aber dann blickte ich in die Schublade meines kleinen Schreibtisches, sah das rote Haarband, das sie bei mir vergessen hatte, und wusste, es hatte sie gegeben. Noemi.
Ich kam auf eine andere Schule in eine neue Klasse. Weil niemand aus meiner alten Klasse in die neue mitkam, begann dort alles wieder bei null. Für meine neuen Kameraden war ich nicht mehr der Mädchenschmecker, sondern der Professore. Weniger, weil ich viel wusste, sondern weil ich eine Brille tragen musste. Eine Art Milchglasbrille, bei der das linke Auge abgedeckt war, da ich auf dem rechten nicht gut sah. Mit der Brille sah ich lächerlich aus, und ich musste viel Spott über mich ergehen lassen.
Aber in der Klasse saß noch ein anderer mit einer Milchglasbrille: Michele. Er war auch ein Einzelkind. Mit ihm verbrachte ich viel Zeit. Er hatte einen Plattenspieler. Ein Plattenspieler war für meinen Vater etwas Überflüssiges. Er brauchte keinen Plattenspieler, er hatte sein Vaporetto und Taue, die klagende Laute von sich gaben, wenn sie beim Anlegen gespannt wurden.
Michele spielte mir seine Lieblingsplatten vor, von Paolo Conte, Fabrizio de André und Adriano Celentano. In dieser Zeit hörte ich zum ersten Mal Pop und Rock n’ Roll, da im Radio zu Hause meist nur Schlager und Opern liefen.
Immer wieder hörten wir Un gelato al limon von Paolo Conte. Das Lied war ein Versprechen. Es drückte eine Lebenseinstellung aus, nach der wir uns sehnten, ein Gefühl, in dem wir ganz aufgingen. Diese Platte hütete Michele wie seinen Augapfel. Ich durfte sie nicht anfassen, weil er glaubte, ich hätte keine Ahnung, wie man eine Platte anfasst. Da ich nie welche besessen hatte, hatte er nicht ganz unrecht. Griff ich doch mal nach ihr, wurde er wütend. Die Platten waren sein Heiligtum, Paolo Conte sein Heiliger. Wer sich daran vergriff, war ein verfluchter Hurensohn.
Wenn wir genug hatten von Gelato al limon, lieferten wir uns harte Duelle an seinem Tischfußballkasten. War ich Venezia, dann wählte er, seiner deutschen Mutter wegen, eine deutsche Mannschaft, etwa Bayern München. Das spornte mich immer besonders an, da ich Bayern München nicht ausstehen konnte. Weil wir beide nicht verlieren konnten, kämpften wir so verbissen, dass der Kasten beinahe auseinanderfiel. Wer verlor, brauchte mindestens eine Stunde, um wieder ansprechbar zu sein.
Als sich unsere Gemüter nach den hitzigen Tischfußballduellen wieder beruhigt hatten, begann Michele eines Nachmittags von einem Mädchen zu schwärmen, das er in der Übergangsklasse kennengelernt hatte: Elisabetta. Sie war die Zwillingsschwester von Loredana, die auch in unserer Klasse war und neben ihr saß. Es waren eineiige Zwillinge. Sie waren gleich angezogen und taten stets alles zusammen.
Michele erzählte voller Stolz, dass Elisabetta ihn nach seinen Notizen in Geschichte gefragt habe, dass sie zusammen Mathematikaufgaben gelöst und die beiden Zwillinge ihn zu ihrem Geburtstagsfest eingeladen hätten. Er setzte seinen verschwörerischen Milchglasblick auf und schnippte mit den Fingern. Auf der Party würde er sich ihr nähern. Seines Erfolges war er sich gewiss.
Obwohl ich meine Zweifel hatte, ob das Austauschen von Notizen etwas zu bedeuten hatte, und Elisabettas Verhalten ihm gegenüber nüchterner sah – ich wusste, dass sie sich auch von Claudio Notizen borgte und öfter zu Claudio hinübersah –, wollte ich ihm seine Freude und Hochstimmung nicht verderben.
Vielleicht lag es gerade an Micheles Abgehobenheit, an seinen nicht enden wollenden Schwärmereien für Elisabetta, dass ich mich für die andere der beiden Schwestern zu interessieren begann. Auf jeden Fall fing ich an, Loredana aus der Ferne zu beobachten, ihre Blicke zu suchen und an sie zu denken. Sie sah knabenhaft aus, hatte ganz kurze Haare und strahlte etwas Ungelenkes, Steifes aus. Diese Steifheit holte mich beim Zusammensein mit ihr immer wieder ein. Jedes Gespräch mit ihr verlief irgendwie harzig.
Mit Noemi war nie etwas harzig gewesen. Mit Noemi hatte ich einfach sein können, ich hatte mich nie anstrengen müssen. Jetzt war jeder Schritt eine Anstrengung. Immerhin fesselte mich irgendetwas an Loredana, auch wenn ich nicht genau wusste, was mich für sie einnahm. Sie hatte etwas Erwachsenes oder wirkte zumindest erwachsen, war nicht so kindisch wie andere Mädchen in der Klasse.
Ich
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