Die Geliebte des Gelatiere
lag ein leichter, süßer Vanilleduft in der Luft.
Und ich wuchs. Plötzlich war meine Meinung gefragt. Dass ich ein Einzelkind war, schien nun niemanden mehr zu interessieren. Hatte ich eben noch als egozentrisch, eigensinnig, altklug, wehleidig, verwöhnt und verzogen gegolten – typisch Einzelkind eben –, war das nun alles Schnee von gestern. Seit ich bei der »Regata Storica« gewonnen hatte und mit Bild auf der Frontseite des Gazzettino erschienen war, hatte man mit einem Mal Respekt vor mir. Aus dem alten Alvise hatte sich ein neuer entwickelt, und damit hatte sich auch mein Image verändert.
Noch immer hörte ich gern Musik. Nicht mehr Fabrizio de André oder Francesco de Gregori, sondern Lucio Dalla, Edoardo Bennato und Miles Davis. Um mir eine Stereoanlage kaufen zu können, arbeitete ich aushilfsweise in Pippos Gelateria. An freien Nachmittagen stand ich hinter der Theke, sorgte dafür, dass die weißen Kästen immer randvoll mit Fragola, Amarena oder Cocco waren, und drapierte das Eis zu kunstvollen Türmen. Aus den gewünschten Sorten formte ich mit dem Portionierer gleichmäßig große Kugeln, füllte sie in ein Waffelhorn oder einen Becher, reichte sie über die Theke, legte die Scheine in die Kasse und wünschte mit dem Wechselgeld einen schönen Tag.
Allein schon die Farben der verschiedenen Eissorten machten mir gute Laune: Himbeerrosa, Vanillegelb, Pistaziengrün, Schokoladenbraun. Zauberhaft die Struktur der Kristalle an der Oberfläche des Eises. Und erst die Düfte! Die warmen Aromen von Caramelita und Walnuss, das Exotische von Mango, Passionsfrucht und Ananas.
So, wie ein Zahnarzt langsam depressiv wird, weil ein großer Teil seiner Patienten ängstlich und kummervoll auf ihn wartet, so profitierte ich umgekehrt davon, dass die meisten, die zur Gelateria kamen, guter Dinge waren: Die Vorfreude auf das Eis, der Genuss des Leckens, der Geschmack auf der Zunge, die Süße, die Kühle, der Schmelz, all das trug zu einem Hauch dolce vita bei. Natürlich gab es manchmal Ärger mit Waffeln, die zu Boden fielen, mit Eis, das auf Kleider tropfte, oder mit Touristen, die nicht verstehen wollten, dass Limone Limone war. Aber im Großen und Ganzen lag über der Tätigkeit selbst im Winter so etwas wie sommerliche Heiterkeit.
Wenn nichts lief, schaute ich Pippo über die Schulter, wie er im Hinterraum das Gelato herstellte. Die genauen Rezepturen waren geheim, und als ich meinen Job antrat, musste ich ihm bei der Madonna dell’Orto versprechen, nie etwas über die Zubereitung zu verraten. Die Zutaten kochte er auf neunzig Grad hoch, um sie dann zu filtern und auf vier Grad abzukühlen. Die Masse ließ er wie einen Käse einen Tag lang reifen, bevor er die natürlichen Aromen zusetzte. Dann kam die Mischung in eine Maschine, die dem Ganzen Luft zufügte.
»Schreib dir’s hinter die Ohren, Alvise«, pflegte er zu sagen, wenn er an der Eismaschine hantierte, »das Geheimnis guter Gelati liegt in der Luft, und die richtige Menge Luft ist eine Sache des Gefühls.«
Und das hatte er – sein Gelato war von köstlicher Luftigkeit. Das Geschäft lief prächtig. Mein Verdienst war allerdings mäßig, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich mir die ersehnte Stereoanlage kaufen konnte. Immerhin hatte ich meinen ersten Job, und ich war stolz auf mein selbst verdientes Geld. Außerdem war Pippos Gelateria ein Treffpunkt vieler unterschiedlicher Leute. Venezianer, Touristen, Menschen aus allen Schichten und Altersklassen. Auch Mädchen, jede Menge Mädchen. Doch ich war zurückhaltend. Die Geschichte mit Loredana lag mir noch auf dem Magen.
Dann lernte ich Charlotte kennen. Charlotte war Engländerin, lebte aber mit ihren Eltern seit Jahren in Venedig. Sie sprach perfekt Venezianisch, hatte lange blonde Haare und ein hübsches Gesicht. Sie war das Gift, das jeden Siebzehnjährigen umwirft.
Einige Male war sie zur Gelateria gekommen, ohne mich zu beachten. Immer schien sie in Eile und leicht zerstreut oder nervös, als wäre sie unter Zeitdruck und hätte ganz wichtige Geschäfte zu erledigen. Zugleich aber meinte ich in ihren Augen etwas Einsames auszumachen, etwas, dem sie mit aller Kraft zu entfliehen suchte.
Eines Tages, als sie eine Waffel mit Pistacchio und Cocco wollte, schenkte ich ihr das Eis, und da sah sie mich zum ersten Mal an. Wir kamen ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass sie aus Bath im Südwesten Englands kam. Sie sagte, sie kenne mich von irgendwoher, könne mich aber nicht
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