Die Geliebte des Normannen
Freundschaft zu tun gehabt. Der Verrat und die Enttäuschung, die Stephen verspürte, waren unermesslich.
»Das wird dir noch leidtun!«, schrie Rufus.
Das Gesicht hochrot vor Zorn, ging er plötzlich auf seinen Bruder los, offenbar, um ihn zu würgen. Doch Henry duckte sich, und dann begannen er und Stephen gleichzeitig zu laufen, hinaus aus dem Stall und in den Burghof.
»Hier entlang!«, rief Henry, und Stephen folgte dem jüngsten Prinzen in Richtung des Hauptturms. Einen Augenblick später waren sie sicher im großen Saal bei den schlafenden Männern angelangt.
Keuchend und außer Atem fielen sie auf Stephens Lager. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass ihm die Tränen kamen; Tränen, gegen die er ankämpfte, seit er sich am Hof des Königs befand. Er wollte nur noch nach Hause.
Aber lieber würde er sterben, als sich Henry weinend zu zeigen. Er wandte sich ab, fasste sich rasch und bedankte sich kurz, sobald er wieder sprechen konnte.
»Keine Ursache«, meinte Henry leichthin. Das Stroh raschelte, als er sich aufsetzte. »Hat dir denn niemand geraten, dich vor meinem Bruder in Acht zu nehmen, weil er Jungen viel lieber mag als Mädchen?«
»Nein.« Stephen starrte auf seine Hände. »Er war nett. Ich dachte, er sei mein Freund.«
Es schmerzte. Jetzt hatte er also gar keine Freunde mehr. Nicht hier bei Hofe. Er war weit weg von zu Hause und allein. Dann sah er Henry von der Seite an, der ihm unaufgefordert zu Hilfe gekommen war.
»Warum hast du mir geholfen?«
Henry grinste.
»Weil ich meinen Bruder nicht mag. Weil du eines Tages über Northumberland herrschen wirst – dann sind wir Verbündete.«
Zum ersten Mal in seinem Leben streifte Stephen eine Ahnung der Macht, die er eines Tages in den Händen halten würde.
»Und wenn ich nicht der Erbe von Northumberland wäre?«
Henry blickte ihn an, sein Lächeln war auf einen Schlag verschwunden.
»Es wäre dumm von mir«, sagte er, »mich gegen meinen Bruder zu stellen, wenn ich nichts davon hätte.«
Stephen fühlte Enttäuschung in sich aufsteigen. William Rufus war nicht sein Freund gewesen, aber ebenso wenig war es Henry. Der hatte ihm zwar geholfen, jedoch nur aus Berechnung.
Henry verschränkte die Arme über den Knien.
»Du bist ein richtiges Baby. Wenn du nicht erwachsen wirst, schaffst du es nie, Herrscher über Northumberland zu werden.«
Jetzt war Stephen ausgesprochen verärgert.
»Du bist nicht älter als ich!«
»Ich bin sieben. Und ich wurde am Hof erzogen, hier und in der Normandie. Ich weiß, wovon ich rede.« Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Ein Verbündeter ist viel besser als ein Freund.«
Stephen beruhigte sich; er dachte sorgfältig über diese Worte nach. Henry hatte recht, das bewiesen die Ereignisse des heutigen Abends.
»Dann sind wir Verbündete«, sagte er so entschlossen, dass Henry ihm einen schiefen Blick zuwarf. »Und ich werde mich von deinem Bruder fernhalten.«
Wut stieg in ihm auf. Wie konnte der Prinz es wagen, ihn zu behandeln wie den Leibeigenen, wenn er doch eines Tages der Herrscher von Northumberland sein würde!
Und eines Tages würde der Prinz König sein. Dieser Ge danke wirkte ernüchternd. Eines Tages würde Rufus sein Lehnsherr sein.
»Normalerweise benimmt sich Rufus besser«, meinte Henry, »aber bei dir dachte er wohl, weil du nur eine Geisel bist, würde sich niemand darum kümmern, wenn er tut, was er will.«
Stephen brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Henry gesagt hatte.
»Ich bin keine Geisel«, gab er dann zurück.
»Ach, komm! Soll das heißen, das weißt du nicht? Hat dir das niemand gesagt? Dein Vater hat es dir nicht gesagt?« Stephen konnte es nicht glauben.
»Ich bin keine Geisel. Ich werde lediglich am Königshof erzogen.«
»Du bist eine Geisel, Stephen. Du dienst ebenso wie Duncan dazu, einen mächtigen Vater in Schach zu halten.«
»Aber – mein Vater und der König – sie sind doch Freunde!«
Henry wurde noch ernster.
»Sie waren einmal Freunde. Ich weiß gut, wovon ich rede. Ich habe gehört, wie mein Vater wegen Lord Rolfe de Warenne getobt hat. Er hat Angst, denn er hat ihm zu viel gegeben, und was er ihm nicht gegeben hat, hat sich Lord Rolfe genommen. Du bist hier, um sicherzustellen, dass Lord Rolfe weiterhin den König gegen seine Feinde unterstützt.«
Plötzlich fühlte sich Stephen noch verlassener als zuvor. »D-das hat er mir nicht gesagt«, flüsterte er und schloss gequält die Augen.
Henry schwieg.
Stephen konnte sich nicht
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