Die Geliebte des Trompeters
eine unkontrollierte Wut ausbrechen. Und die Wut hatte nur scheinbar etwas mit dem abgekarteten Spiel der anderen zu tun, die Wut, das ahnte Dick, hatte einen anderen Ursprung, sie wurde genährt von Erlebnissen, die sehr weit zurücklagen. Dick wusste nicht, was ihn an dem Jungen mehr anrührte: sein Zorn oder seine Sanftheit.
Gehen wir wieder rein!, sagte er nach einer Weile. Habe keine Lust auf die Krankenstation. Und Calloway ist ganz großer Mist, merk dir das!
|20| Und dann waren sie durch. Dann warf sich der Truppentransporter in der deutschen Stadt Bremerhaven an den Kai und spuckte seine Ladung aus. Und die Männer, die an Land geworfen wurden, ihr spärliches Gepäck über der Schulter, blickten in einen neuen Tag. Der Tag war unbekannt und grau, weiß und eisig. Das Land lag unter einer knöchelhohen Schneedecke.
So was!, sagte Dick andachtsvoll. Der Schnee schluckte die Stiefeltritte der Männer und das Geräusch der heranrollenden Laster, der Schnee schluckte die gebrüllten Befehle der Offiziere. Schnell liefen die Gesichter der Männer rot an: Die Kälte biss unbarmherzig zu. Sie setzten sich in Bewegung. Folgten irgendwem irgendwohin. Behielten immer das Weiße im Auge. Das Weiße hypnotisierte sie, sie saugten das Weiße durch die Augen in sich hinein, und das Weiße breitete sich in ihnen aus wie die Kälte, irgendjemand entfaltete in ihnen ein großes Laken, eisig und steif und weiß. Irgendwo eine Halle. Beschlagende Brillen, Pfützen um die Stiefel und Nasen, die so heftig liefen, dass kein Taschentuch half. Rotzjungen jetzt wieder vor den Anschlagstafeln auf irgendeinem Flur. Und dann das Glück, als der Soldat las, wohin der Marschbefehl ging: nach Berlin. Nicht deswegen war der Soldat glücklich, er hatte nur eine sehr vage Vorstellung von der ehemaligen Hauptstadt des Reiches – glücklich war er, weil auch Dick nach Berlin abkommandiert war. Sie würden zusammenbleiben.
In einem nüchternen Saal hieß es warten. Sie waren müde, sie waren stumm. Jemand brachte Kaffee. Ein Radio lief. Eine tiefe Frauenstimme sang, und Chet horchte auf. Er konnte nicht anders. Er hörte jeder Musik zu. Das hier war ein Lied, ein kleiner Song, und Chet, der den Text nicht verstand, begriff dennoch, dass es um die Seefahrt ging und die unvermeidliche Sehnsucht:
Der Junge an der Reling / der sieht nur still
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in diese Sternennacht hinaus. / Die Küsten sind voller Häfen, / doch jeder Hafen spuckt ihn wieder aus / Hoppla-he …
Ein Akkordeon, ein paar Streicher, ziemlich sentimental das Ganze. Aber die Frau sang nicht schlecht. Lakonisch, so, als würde sie das üppige Arrangement gar nicht kümmern. Ein deutscher Star, belehrte man ihn, sehr berühmt während des Krieges. Der Junge erkundigte sich nach dem Namen. Lale Andersen. Eine Blondine. Man erzählte ihm von
Lili Marleen,
die während des Krieges die Soldaten auf beiden Seiten der Front gerührt hatte – aber Chet hörte schon nicht mehr zu. Was für eine Stimme! Chet stellte sich die Person vor, die zu dieser Stimme gehören musste, und dachte, dass die Geschichten von den gewaltigen deutschen Frauen, diesen blonden Walküren, wahrscheinlich doch stimmten, und dass diese Frauen genauso gefährlich wären wie ihre Nazimänner. Mindestens. Zum ersten Mal spürte der Junge so etwas wie Angst. Er würde auf der Hut sein. Er würde sich in keine Falle locken lassen. Er war froh, als das Lied zu Ende war.
Sie reisten mit Umwegen, erst in einem Wagenkonvoi, dann im Zug, dann in einem anderen Zug, und schon bald verloren die Soldaten die Orientierung. Aber erst nach ein paar Stunden fiel ihnen auf, dass da draußen etwas fehlte: die Deutschen. Sie fuhren durch ein verlassenes Land. Sie passierten tote Landschaften, ein endloses, flaches Schwarzweiß von niedrigem Buschwerk, Zäunen und erstarrenden Flüssen. Sie rumpelten durch Dörfer, in denen sich nichts regte, durch wenige Kleinstädte nur, die aber schon vor langer Zeit aufgegeben schienen: überall Ruinen, Trümmer, verkohlte, verbrannte Mauern und davor der Schnee, der auch eine graue Farbe angenommen hatte, grau wie alte Kohle, grau wie Ruß, grau wie die unendliche Traurigkeit, die auf dem Land lag.
Das kalte Leintuch, das sie im Innern trugen, wurde fleckig, |22| wies Risse auf. Die Soldaten fühlten sich unbehaglich, verstummten. Wo war der Feind? Wo waren die Besiegten, denen sie Freiheit und Demokratie bringen sollten? Wo waren die Walküren und die blonden Bestien, an
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