Die Geliehene Zeit
Truppen, doch es könnten genausogut auch fünfhundert Kilometer sein.« Lord George wühlte in seiner Hosentasche, aber statt eines Taschentuchs hielt er plötzlich seine Perücke in der Hand. Er starrte sie verdutzt an. Es hätte nicht wenig gefehlt, und er hätte sich damit übers Gesicht gewischt.
Ich reichte ihm dezent mein rußiges Taschentuch. Er schloß die Augen und holte tief Luft; dann sah er mich an und verbeugte sich vor mir mit seiner gewohnten Höflichkeit.
»Ihr Diener, Madam.« Er wischte sich mit dem schmutzigen Tuch übers Gesicht, gab es mir zurück und setzte sich die zerzauste Perücke auf den Kopf.
»Verdammt will ich sein«, rief er, »wenn ich tatenlos zusehe, wie uns der Narr ins Unglück führt!« Er wandte sich entschlossen an Jamie.
»Fraser, wie viele Männer haben Sie?«
»Dreißig, Sir.«
»Pferde?«
»Sechs, Sir. Dazu noch vier Ponys als Packtiere.«
»Packtiere? Aha. Mit Verpflegung für die Männer?«
»Ja, Sir. Außerdem sechzig Sack Mehl, die wir letzte Nacht einem englischen Bataillon abgenommen haben. Ach ja, und dann noch einen Sechzehn-Zoll-Mörser.«
Jamie sprach den letzten Satz mit solcher Beiläufigkeit, daß ich ihm am liebsten das Taschentuch in den Mund gestopft hätte. Lord George starrte ihn einen Moment lang überrascht an, dann verzog er den Mund zu einem Grinsen.
»Ach? Gut, dann kommen Sie mit, Fraser. Sie können mir unterwegs mehr davon erzählen.« Er wandte sich zur Tür, Jamie ergriff seinen Hut, sah mich mit großen Augen an und folgte ihm.
An der Tür der Kate blieb Lord George plötzlich stehen und drehte sich um. Er musterte Jamies hünenhafte Gestalt von oben bis unten, den offenen Hemdkragen, den hastig über den Arm gelegten Mantel.
»Mag sein, daß wir es eilig haben, Fraser, aber uns bleibt allemal die Zeit, daß wir uns wie zivilisierte Menschen benehmen. Geben Sie Ihrer Frau einen Abschiedskuß. Ich warte draußen.«
Dann drehte er sich auf dem Absatz um und machte vor mir einen Kratzfuß. Er verbeugte sich so tief, daß der Zopf seiner Perücke mit einem Schwung nach vorn schnellte.
»Ihr Diener, Madam.«
Ich kannte mich soweit mit dem Militär aus, um zu wissen, daß sich in der nächsten Zeit nichts Besonderes ereignen würde, und so war es dann auch. Männer schlenderten in Gruppen die einzige Straße des Dorfes hinauf und hinunter. Soldatenfrauen, Marketenderinnen und die aus ihren Häusern vertriebenen Bewohner von Tranent liefen ziellos herum. Dazwischen galoppierten berittene Boten mit Nachrichten durch die Menge.
Ich hatte Lord George schon in Paris kennengelernt. Er war kein Mann, der sich lange mit Förmlichkeiten aufhielt, wenn rasches Handeln geboten war. Dennoch hatte er Jamie wohl eher deshalb persönlich begrüßt, weil er seiner Gereiztheit über den Prinzen Ausdruck verleihen und O’Sullivans Gesellschaft entfliehen wollte, und nicht, weil er rasch und vertraulich den nächsten Schritt planen wollte. Wenn die Gesamtstärke der Hochlandarmee zwischen fünfzehnhundert
und zweitausend Mann betrug, mußten dreißig Männer weder als Geschenk des Himmels betrachtet noch mit einem Hohnlächeln abgetan werden.
Als mein Blick auf Fergus fiel, der herumzappelte, als hätte er den Veitstanz, entschied ich, daß ich selbst auch ein paar Nachrichten schicken könnte. In Abwandlung des Spruchs »Unter den Blinden ist der Einäugige König« sagte ich mir: »Wenn keiner weiß, was zu tun ist, ist ein vernünftiger Vorschlag Gold wert.«
In den Satteltaschen fand ich Papier und Tinte. Beinahe ehrfürchtig sah die Frau des Hauses, die vermutlich noch nie in ihrem Leben eine des Schreibens kundige Frau getroffen hatte, mir zu, wie ich einen Brief an Jenny Cameron verfaßte. Jenny hatte die dreihundert Clansmänner höchstpersönlich über die Berge geführt, um sich Prince Charles anzuschließen, nachdem er sein Banner an der Küste aufgepflanzt hatte. Als ihr Bruder nach Hause kam und hörte, was geschehen war, ritt er eilends nach Glenfinnan, um seinen Platz als Clanoberhaupt einzunehmen. Doch Jenny lehnte es ab, nach Hause zurückzukehren und sich den Spaß entgehen zu lassen. Sie hatte den kurzen Zwischenaufenthalt in Edinburgh, wo Charles die Huldigung seiner Getreuen entgegennahm, in vollen Zügen genossen, war aber auch bereit, ihren Prinzen in die Schlacht zu begleiten.
Ich besaß kein Siegel, doch in einer der Satteltaschen befand sich Jamies Mütze, an der eine Plakette mit dem Wappen und dem Leitspruch des
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