Die Geliehene Zeit
angestrengt beobachtete, was auf dem Berg vor sich ging. Jamie hatte ihm die strenge Anweisung gegeben, bei mir zu bleiben, doch er wünschte sich offenbar nichts sehnlicher, als bei den Kriegern zu sein, die sich auf die Schlacht am folgenden Tag vorbereiteten.
»Wie? Ja, Madame.« Mit einem Seufzen drehte er sich um, denn für den Augenblick mußte er sich mit einem langweiligen Frieden zufriedengeben.
Die Sommertage waren vorüber, jetzt begann die Zeit der langen Abende. Die Lampen wurden bereits angezündet, bevor wir unsere Arbeiten erledigt hatten. Auch nach Einbruch der Dunkelheit herrschte draußen eine ständige Unruhe, und am Horizont war der
Widerschein der Feuer zu sehen. Fergus, der nicht stillsitzen konnte, lief von einer Kate zur anderen, überbrachte Botschaften und schnappte Gerüchte auf. Immer wieder sprang er wie ein Kobold aus den Schatten.
»Madame«, sagte er und zupfte mich am Ärmel. Ich war gerade damit beschäftigt, Leinen in Streifen zu reißen, die dann sterilisiert werden sollten. »Madame!«
»Was ist denn jetzt schon wieder los, Fergus?« fragte ich leicht verstimmt über die Störung. Gerade war ich dabei, einigen Hausfrauen auseinanderzusetzen, wie wichtig es war, sich bei der Behandlung von Verwundeten häufig die Hände zu waschen.
»Ein Mann, Madame. Er möchte mit dem Kommandanten der Armee Seiner Hoheit sprechen. Er besitzt wichtige Informationen, sagt er.«
»Dann soll er sich nicht aufhalten lassen.« Ich zerrte erfolglos an einer widerspenstigen Hemdennaht, dann nahm ich die Zähne zu Hilfe. Der Stoff riß mit einem lauten Ratsch.
Ich spuckte ein paar Fädchen aus. Fergus stand immer noch neben mir und wartete geduldig.
»Gut«, sagte ich resigniert. »Was kann ich deiner - oder seiner - Meinung nach unternehmen?«
»Wenn Sie erlauben, Madame«, schlug Fergus eifrig vor, »bringe ich ihn zu meinem Herrn. Er könnte ein Treffen mit dem Kommandanten arrangieren.«
» Er «, das war Fergus’ felsenfeste Überzeugung, konnte einfach alles: auf dem Wasser gehen, Wasser in Wein verwandeln und zweifellos auch Lord George dazu bewegen, mit geheimnisvollen Fremden zu sprechen, die so mir nichts dir nichts mit wichtigen Informationen auftauchten.
Ich strich mir das Haar aus der Stirn. Zwar trug ich ein Kopftuch, doch immer wieder rutschten meine widerspenstigen Locken darunter hervor.
»Ist der Mann hier in der Nähe?«
Das war das Stichwort, auf das Fergus gewartet hatte; er verschwand durch die offene Tür und kam einen Augenblick später mit einem schmächtigen Bürschchen herein, das seinen eifrigen Blick sofort auf mich heftete.
»Mistress Fraser?« Er verbeugte sich unbeholfen, als ich nickte, und rieb sich die Hände an seiner Hose ab, als wüßte er nicht, was er
mit ihnen anfangen sollte, aber als wolle er startbereit sein, wenn deren Einsatz gefordert wäre.
»Ich... ich bin Richard Anderson aus Whitburgh.«
»Aha? Schön für Sie«, erwiderte ich höflich. »Mein Diener sagt, Sie hätten wertvolle Nachrichten für Lord George Murray.«
Er nickte eifrig. »Sehen Sie, Mistress Fraser, ich stamme aus dieser Gegend und... ich kenne die Gegend, in der die Armeen lagern, wie meine Westentasche. Es gibt einen Weg von dem Hang, an dem sich die Hochlandtruppen befinden - einen Weg, der am Wassergraben vorbeiführt.«
»Ich verstehe.« Ich spürte, wie mir flau im Magen wurde. Wenn die Hochlandtruppen am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang angreifen wollten, so mußten sie den Berg in der Nacht verlassen. Und wenn der Angriff erfolgreich sein sollte, mußten sie den Graben entweder überqueren oder umgehen.
Sicher, ich hatte geglaubt zu wissen, was passieren würde, aber jetzt tappte ich völlig im dunkeln. Da ich mit einem Historiker verheiratet gewesen war - bei dem Gedanken an Frank spürte ich wieder einen leichten Stich -, wußte ich, wie unzuverlässig historische Quellen oft waren. Außerdem hatte ich keine Ahnung, ob meine Anwesenheit den Verlauf der Dinge beeinflussen würde oder nicht.
Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, was geschehen würde, wenn ich das Gespräch zwischen Richard Anderson und Lord George verhindern würde. Würde das den Ausgang der morgigen Schlacht ändern? Würde die Hochlandarmee - und damit auch Jamie und seine Männer - im sumpfigen Gelände niedergemetzelt werden? Würde Lord George einen anderen Plan vorlegen, der zum Sieg führte? Oder würde Richard Anderson auf eigene Faust versuchen, mit Lord George zu
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