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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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stechen lassen.
    »Von Ihnen würde ich mich jederzeit fast überall mit Nadeln stechen lassen«, versichere ich ihr, als sie sich entschuldigt. Es klingt aber nicht ganz so elegant, wie es mir lieb gewesen wäre.
    »Ganz meinerseits«, sagt sie abgelenkt und stanzt ein weiteres Loch in meinen nicht bandagierten Arm. Allmählich sieht es wohl ein wenig nach Pointillismus aus, was mich an die Tatsache erinnert, dass die Banknoten vieler Länder oft oder vielleicht sogar immer von Pointillisten erschaffen werden. Den Grund dafür weiß ich nicht, aber ich will ihn unbedingt herausfinden.
    »Ich dürfte Sie mit einer Nadel stechen? Das ist aber freundlich. Leider steht mir gerade keine zur Verfügung«, antworte ich hilfsbereit, und sie errötet. Mir wird bewusst, dass unsere Unterhaltung ziemlich offensichtliche sexuelle Anspielungen enthielt.
    »Oh, verdammt, diese Unterhaltung enthält ziemlich offensichtliche sexuelle Anspielungen. Wussten Sie, dass Banknoten von Pointillisten entworfen werden? Ich erwähne das nur, weil Sie offenbar eine entsprechende Begabung haben.« Irgendjemand redet, und es klingt sogar nach mir, aber so etwas Grobes würde ich nie sagen, wenn ich nicht unter Medikamenten stünde. Das ist allerdings der Fall, denn in einer Stunde werden sie das freundliche Schrapnell aus dem Arm holen, und deshalb bin ich bis zu den Kiemen voll mit glücklichen Säften.
    Leah heult wütend auf, stößt einen erschrockenen Schrei aus, und ich verliere das Bewusstsein. Später erfahre ich, dass sie etwas Unangenehmes mit der Nadel gemacht hat. Als ich erwache, ist sie noch bei mir, aber die Nervosität ist gewichen. Mit ihr auch alle Schmerzen, das heißt die ursprünglichen Schmerzen. Aber dafür ist ein neuer, dumpfer Schmerz da, und ich bin verkatert.
    »Tut mir leid«, sagt sie. »Ich hatte seit vierzig Stunden nicht geschlafen.«
    Dann küsst sie mich. Es ist kein sexueller Kuss, sie wirft sich nicht auf mich und presst sich nicht an mich, um mit ihren zierlichen, faszinierenden Lippen über meinen Mund herzufallen. Dennoch ist es zweifellos ein äußerst erotischer Kuss, mal ganz abgesehen davon, dass ich sieben Monate lang auf weibliche Gesellschaft verzichtet habe und mittlerweile, wenn ich mich nicht vor Schmerzen winde, sogar schon die elegante Linienführung eines Stuhlbeins oder das Stöhnen eines Dielenbretts aufreizend fände. Der Kuss ist in dem Sinne erotisch, dass auch Liebe oder das Versprechen von Liebe oder das Angebot der Möglichkeit von Liebe im Spiel ist. Mir ist nicht klar, wie ich so etwas verdient habe. Es ist wundervoll. Dann hört es auf. Sie betrachtet den Angriffspunkt und scheint erfreut. Ich reiße den Mund weit auf (elegant natürlich und ganz und gar nicht wie ein verirrter Lachs, dem eine Meerjungfrau das Leben einhaucht), doch sie dreht sich auf dem Absatz um und marschiert hinaus. Zum ersten Mal, seit ich in Addeh Katir gelandet bin, schlafe ich lächelnd ein.
     
    »Verdammter Mistmistdreckscheißenochmal!«
    Als ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde, hoffte ich, es könnte das Vorspiel für weitere heftige Liebesbeweise werden. So ließ ich die Augen geschlossen und aalte mich in einer hoffentlich anregenden Mischung aus Bedürftigkeit, Männlichkeit und niedlichem Charme wie ein kleines Hündchen. Ich überlegte sogar schon, ob ich ein leises Schnüffeln von mir geben sollte, als die erste Salve dieses unwillkommenen Eindringlings über mich hereinbrach. Sie sollte längere Zeit anhalten. »Dreckmistverdammter« und so weiter und so weiter. Mir ist noch nie ein so einfallsloser Flegel begegnet. Nach einer Weile empfand ich es einfach nur noch als Lärm. Wenn er stattdessen beispielsweise »tut« gesagt hätte – also »tut-tuut-tuttutnocheins« –, dann hätte es den gleichen Sinngehalt gehabt und wäre sogar interessanter gewesen. Na gut.
    Aus dem Quietschen von Rädern und Plastikbahnen schließe ich, dass sie sich erbarmt und den Raum unterteilt haben. So etwas ist im Kriegstheater nicht gerade die Regel, denn solche Freundlichkeiten sind sowieso meist vergebene Liebesmüh. Irgendwann komme ich auf die Idee, dass es eher um seine als um meine Privatsphäre geht, was ich empörend finde. Nachdem er acht Minuten am Stück geflucht hat, ist er sicher kein sehr frommer Mensch. Eher ziemlich unflätig. Ich beschließe, mir vorzustellen, dass er tatsächlich »tut« sagt.
    »Tut hier, tut da, tutnochmal, tut-tut, Tutdreck, Tutmist, tut-tut.«
    Schon viel besser. Je

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