Die gelöschte Welt
öfter er aus vollem Halse »tut« brüllt, desto weniger anziehend wirkt er zweifellos auf eine gewisse wundervolle, unfassbare Frau mit einer Schwäche für stoische Kämpfer. Ich schlafe wieder ein, wenn schon nicht lächelnd, dann wenigstens überlegen grinsend. Aber es ist komisch. Er stößt die Flüche leidenschaftslos aus, als ginge er eine Einkaufsliste durch. Manchmal sind sie laut, manchmal leise. Das ist alles. Offenbar ist diesem Menschen etwas Schlimmes zugestoßen. Ich darf ihm nicht zu nahe kommen, vielleicht ist es ansteckend.
Am nächsten Morgen rollen sie ihn wieder hinaus, er murmelt immer noch. Es ist Bobby Shank. Ich komme mir wie ein Schwein vor und mache mir Sorgen, dass hier eine böse Triage am Werk sein könnte. Morgen bringen sie jemand anders, er wird schreien, und am nächsten Morgen wird er zusehen, wie sie meinen reglosen Körper abholen und ein großes schwarzes X auf mein Krankenblatt malen.
Darüber mache ich mir Sorgen, bis Schwester Leah zurückkommt und mich durch die Tür anlächelt. Dann tritt sie ein, schenkt mir einen weiteren kurzen, anregenden, geheimnisvollen Kuss und huscht davon, ehe ich sie zur Rede stellen kann.
Später sitzt ein Pfleger an meinem Bett und erklärt mir, dies sei keineswegs die übliche Behandlung. Anscheinend habe ich sie im Aufwachraum gefragt, ob sie mich heiraten wolle, und was ich gesagt habe, muss so unglaublich tapfer und einfühlsam gewesen sein, dass sie dringend auf eine Einladung von mir wartet. In der Anästhesie liegt eine gnadenlose Wahrheit verborgen, noch viel stärker als im Wein. Das wahre Wesen eines Mannes oder einer Frau wird durch den adstringierenden Zustrom von Pentothal und seinen Verwandten entsetzlich bloßgestellt. Ein echtes Date ist vermutlich nicht möglich, weil wir uns in einem Kriegsgebiet befinden. Also hat sie mir eine Nachricht geschrieben, weil ihr bewusst ist, wie albern dies alles klingt. Sie will nicht dabei sein, wenn ich sie auslache oder zugeben muss, dass ich schon verheiratet bin. Ob ich ihre Botschaft lesen wolle?
Der Pfleger heißt Egon Schleuder. Er ist ein schlanker, griesgrämiger Kerl aus Gladdyston. Ich weiß nicht, wo das liegt, und er verrät es mir auch nicht. Er sperrt sich ein wenig und wurde offensichtlich überredet, mit mir zu sprechen, und erwartet nun eine unehrenhafte Antwort von mir. Ich erwidere, dass ich nicht verheiratet bin und niemand auf mich wartet. Es gebe keine gesetzlichen oder sozialen Hinderungsgründe, die dagegen sprächen, dass ich aus Schwester Leah, mit der er offenbar befreundet ist, eine ehrbare Frau mache. Dann wird mir klar, dass mein postoperatives idiotisches Gestammel keine solide Grundlage für eine Ehe ist, denn so etwas muss man feierlich angehen und gründlich über die Folgen nachdenken. Und es muss auf der Grundlage des Wissens geschehen, dass lieben eine aktive Handlung ist. Ein Verb und etwas, für das man sich entscheidet. So etwas kann man versprechen und erfüllen, während Verliebtheit etwas Flüchtiges und Zerbrechliches bleibt, das je nach Wind und Jahreszeit kommen und gehen mag.
Ich sage ihm, dass ich wirklich sehr gern mit ihr ausgehen würde, dass es sich auch gewiss irgendwie einrichten ließe und ich unbedingt Schwester Leahs Nachricht lesen wolle.
Egon Schlender macht ein sehr ernstes Gesicht, starrt einen Moment an mir vorbei ins Leere, denkt nach und nickt schließlich. Dann zieht er einen kleinen beigefarbenen Umschlag aus der Innentasche und gibt ihn mir. Ich habe keine Ahnung, wie die Frau hier an Briefpapier gekommen ist. Er riecht nach nichts oder eigentlich nur nach sauberem Papier. Kein Parfümgeruch. Offenbar verwendet Schwester Leah niemals Parfüm, sondern wäscht und sterilisiert sich ständig. Die Abwesenheit eines Geruchs, das ist ihr Duft. Schwester Leah ist der allgegenwärtige Geruch dieser Einrichtung. Doch in den Falten muss ein winziger Hauch ihres Körpers stecken, von den Ausdünstungen ihrer Haut, von ihrem Schweiß. Ich schnüffle daran, und vielleicht ist dort wirklich etwas. Ein kleiner Anflug von etwas, das mich an Blüten erinnert, und von Anstrengung und Sorge. Pfirsich und Latex.
Ihre Handschrift ist klein und ordentlich: die Handschrift eines Menschen, der sich nicht für künstlerisch hält, sondern für den Klarheit und Reinheit der Form wichtig sind. Keine Schnörkel, keine zusätzlichen Striche. Die Buchstaben sind fließend geschrieben, aber in gleichmäßigem Abstand gesetzt, als läge zwischen
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