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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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oder unser Ziel meinte, aber er war jetzt sehr aufmerksam, beäugte die schmalen Stellen der Straße, schätzte sie und unsere Eskorte mit Blicken ab und fragte sich offenbar, was uns jetzt blühte.
    Unmittelbar nach der Großen Löschung und der Reifikation war eine Stimmung aufgekommen, die man als übertriebenen Optimismus bezeichnen könnte. Eine bestimmte Stadt war trotz der jüngsten Vergangenheit als eine Art Wahrzeichen unseres Sieges gebaut worden. Der erste einer ganz neuen Sorte strahlender, sicherer Orte, an denen wir weiterleben konnten wie zuvor, wo wir Steuern zahlen und uns über unseren Haaransatz und die Leibesfülle der mittleren Jahre Sorgen machen, uns aber auch fragen konnten, warum sich der Kerl nebenan trotz, sommerlicher Hitze nicht an die Vorschriften zum Wassersparen hielt. Sie nannten den Ort Heyerdahl Point und verkauften ihn als Abenteuer und Beispiel für den neo-suburbanen Pioniergeist. Ungefähr fünftausend Menschen lebten dort. Der Ort war über eine eigene kleine Kapillare mit dem Jorgmund-Rohr verbunden und breitete sich wohlbehalten und sicher auf einem Hügel aus, damit die Einwohner auf die Täler hinabschauen konnten, auf die gefährlichen Nebelschleier des Irrealen. Und damit sie im Bewusstsein leben konnten, dass sie die Grenze einfach nur durch ihre Anwesenheit ein Stück weiter hinausgeschoben hatten.
    »Eines Tages«, konnten sie sich beim Schonkaffee erzählen, »wird es hier wieder Äcker geben.«
    Jetzt hieß die Gegend Drowned Cross.
    Wir fuhren durch eine Kurve, und da lag der Ort vor uns, auf den kleinen Hügel geduckt, dunkel und leer wie die Hundehütte, nachdem du ihn zum Tierarzt gebracht und Lebewohl gesagt hast. Die Straße führte gerade darauf zu, und Bone Briskett brachte uns geradewegs in den Ort. Drowned Cross wurde zwar allmählich größer, aber nicht heller. Zerklüftet breitete sich die tote Stadt vor uns aus. Der große abgebrochene Vampirzahn war der Kirchturm im Zentrum, und das unförmige Ding, gegen das er gestürzt war, war der städtische Uhrenturm, den es um Viertel nach fünf getroffen hatte. Die hell gestrichenen Häuser waren sauber und hatten Terrakottaziegel auf den Dächern. Die Fenster waren intakt. Zwei Autos parkten ordentlich auf dem Hauptplatz, die Tür eines Wagens stand offen. Es war einer dieser Orte gewesen, wo man die Schlüssel stecken ließ, wenn man die Zeitung kaufte. Aus dem offenen Schiebedach schossen Vögel empor, als wir vorbeifuhren. Graue und schwarze Tauben mit irren Taubenaugen. Eine war zu dumm, in die richtige Richtung auszuweichen, und prallte gegen unsere Windschutzscheibe. Vielleicht hatten die anderen sie auch gestoßen – man kann sich leicht vorstellen, dass unter Tauben auch Morde geschehen. Gonzo fluchte. Der betäubte Vogel torkelte davon und blieb auf der Straße liegen. Falls er noch dort war, wenn Samuel P. kam, dann würde dieser ihn gezielt überfahren.
    Niemand wusste genau, was sich in Drowned Cross ereignet hatte. Es gab keine Überlebenden, niemand hatte sich – gezeichnet und verzweifelt – in der nächsten Stadt blicken lassen, kein einsamer Schafhirte hatte die Angelegenheit von einem benachbarten Hügel aus beobachtet. Was es auch gewesen war, es hatte keinen Lärm gemacht und keinerlei Spuren hinterlassen. Irgendetwas war aus dem Irrealen gekommen und hatte den Ort verschlungen. Vielleicht frisst der Hügel unter Drowned Cross Dörfer. Im Radio habe ich einmal eine Geschichte über eine Gruppe von Matrosen gehört, die im Meer trieben, bis sie endlich eine Insel fanden, wo sie über Nacht ankern konnten. Sie hatten nicht damit gerechnet, so weit vom Kurs abgekommen und verwirrt durch fremde Sternbilder auf Land zu stoßen, und sich auf Durst und Irrsinn eingestellt. So weinten sie, küssten den Boden und zündeten ein Feuer an, um ihr Abendessen zu kochen. Dann fielen sie in einen unruhigen Schlaf. Natürlich wachten sie mitten in der Nacht durch ein schreckliches Heulen auf. Die Insel, auf der sie standen, erbebte, dann griffen riesige, knochenlose Arme aus dem Wasser nach ihnen. Ihnen wurde bewusst, dass sie auf dem Rücken eines schrecklichen Ungeheuers aus der Tiefe Zuflucht gesucht hatten.
    Als Kind mochte ich solche warnenden Geschichten. Als ich nun aber neben Gonzo saß und die sauberen, leeren Häuser von Drowned Cross betrachtete, musste ich an Muscheln denken, die mit Knoblauchsoße geschlürft wurden, und an die ausgelutschten Schalen, die man in die Schüssel zurückwarf.

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