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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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gewaltige, von Schluchzern geschüttelte Körper, sich in den Armen ihres winzigen Gatten wiegt. Der alte Lubitsch singt für sie in der Sprache der alten Heimat, und seine dunklen, scharfen, kleinen Augen erlegen mir die Omertà auf, die Verschwiegenheit bis zum Tod. Dies sind die Geheimnisse zwischen Männern, mein Junge, zwischen echten Männern, die ein Herz haben. Ich weiß. Ich verstehe.
    Dieses Bild sehe ich immer vor meinem inneren Auge, wenn Gonzo leichtfertig den Helden spielen will – ein kleiner Mann in einem weißen Overall, der einem zerschmetterten Berg seine Kraft schenkt.
    Gonzo angelt. Er fängt zwei Fischchen einer unbekannten Art und wirft sie wieder zurück, weil sie so unglücklich wirken. Was ich gesehen habe, erzähle ich ihm nicht, und auf einmal sind fünf Jahre vergangen.
    Gonzo Lubitsch ist zehn – ein Anstifter und Draufgänger, er setzt sich immer durch, er lässt sich nicht unterkriegen, er verabscheut Regeln und wird zum Objekt unzähliger Begierden. Lydia Copsen hält öffentlich Händchen mit ihm, was Gonzo zu dem am meisten beneideten Jungen der ganzen Gegend macht, und auch wenn keiner von uns fähig ist, seine bittere Enttäuschung wirklich auf den Punkt zu bringen, so schreiben wir es hauptsächlich der Tatsache zu, dass Lydias Mutter so freizügig Süßigkeiten verteilt. Lydia ist ein winziges, herrisches Mädchen und stolze Besitzerin eines Sortiments von Kleidern mit Obstmuster. Außerdem ist sie, das sehe ich schon aus der Ferne, die Tochter Satans und die Frau aus Bath. Abwechselnd ist sie hochmütig und hinreißend und verteilt mit instinktiver politischer Raffinesse hauchzarte Küsse. Ihren ungehinderten Zugang zu Süßwaren nutzt sie, um eine starke, loyale Clique von Mädchen um sich zu scharen, die ihrer Herrin im Wassermelonenkleid unterwürfig dienen und alle Geheimnisse anvertrauen. Im Alter von neun Jahren ist Lydia Copsen eine Mischung aus einer Redakteurin der Regenbogenpresse und einer vornehmen Dame aus Beverly Hills. Ihre Bewunderung für Gonzo wird nur noch durch ihre Verachtung für mich übertroffen, aber Gonzo ist ein treuer Freund und lässt mich nicht hängen. Deshalb bin ich jeden Tag das fünfte Rad am Wagen, wenn sie auf dem Spielplatz lustwandeln, und wenn er sie nach Hause bringt, bin ich die Anstandsdame. Lydia besteht darauf, dass ich zehn Schritte hinter ihnen gehen muss, aber damit schießt sie ein Eigentor, weil ich mir sowieso schon wünsche, dem liebenden Paar so fern wie nur irgend möglich zu bleiben.
    Ungefähr zu dieser Zeit verliere ich dank unserer Schulleiterin endgültig den Glauben an ein gnädiges höheres Wesen. In Wahrheit ist sie die Evangelistin, denn so kennen sie Gott und seine Engel, Jahwe und seine Engel, Allah und seine Engel sowie all die anderen Götter der Welt und ihre Engel, Dämonen, Avatare, Diener, Gefolgsleute und Einsiedler, und so steht ihr Name geschrieben auf den Hunderten von Listen der Lebenden und der Toten, die sie alle wie himmlische Buchhalter mit sich herumtragen. Sie tritt jedoch in der Maske der Assumption Soames im Warren-Haus in Cricklewood Cove als Leiterin der gleichnamigen Soames School für die Kinder des Ortes auf. Sie ist klein und schlank und von undefinierbarem Alter, aber ein Kind, das Zugang zu einer Bibel hat (jedes Kind auf der Soames School hat einen genügenden, sogar überreichlichen Zugang zur Bibel), würde sie mühelos dem zehnten Kapitel der Genesis irgendwo zwischen Aram und Lud zuordnen. Unter den Tapferen und Dummen, die über derlei Dinge zu spekulieren wagen, kursieren Gerüchte, sie könne gar schon fünfzig Jahre alt sein. Mr Soames, dessen Urgroßvater die Schule gründete, starb seinerzeit am Sumpffieber, und der stillschweigende Konsens unter den Eltern geht allgemein dahin, er sei mit einem erheblichen Gefühl der Erleichterung verschieden. Mr Brabasen deutete sogar an, Mr Soames habe mit seinen ausgedehnten und häufigen Angelausflügen in die dunklen, stinkenden Winkel der Cricklewoodsümpfe einzig und allein die Absicht verfolgt, sich mit besagter Krankheit zu infizieren, mit einem gefährlichen Virus also, der in achtzig Prozent aller Fälle dem Opfer entweder das Gehör oder das Leben raubt. Diese beiden traurigen Folgen seien, so erklärte Mr Brabasen, aus Mr Soames' Sicht als durchaus wünschenswerte Ergebnisse zu betrachten gewesen.
    Da Assumption Soames' Spitzname über unser kindliches Auffassungsvermögen ging, muss man anmerken, dass er zunächst auch im

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