Die gelöschte Welt
Hier war schlicht und ergreifend etwas Hässliches passiert, und es hatte seitdem noch weitere ähnliche Ereignisse gegeben. In den nächtlichen Stunden vor der Dämmerung fuhren am ganzen Jorgmund-Rohr Menschen aus dem Schlaf auf, lauschten und fürchteten sich vor den Wesen, die sich jenseits der Grenze herumtrieben. Dort draußen gab es etwas, das Orte fraß und danach einfach weiterzog. Die Leute sagten, es seien die gefundenen Tausend. Ich hoffte, dass dies nicht zuträfe.
Die Straßenkreuzung, die der Gegend ihren Namen gegeben hatte – unsere Straße und die andere, die von Ost nach West durch die Stadt lief und zu dem Bereich führte, der vermutlich als Nächstes zurückerobert werden sollte –, befand sich jenseits des Platzes. Wir fuhren langsam. Teils, weil die Pflastersteine vom Tau glitschig waren, teilweise aber auch, weil man auf dem Friedhof nicht mit quietschenden Reifen anfährt, so schnell man auch von dort verschwinden will. Wo sich die Straßen trafen, schimmerte etwas im Staub: ein silbriges Stück Metall, auf dem etwas eingeritzt war, das man für einen Neumond oder eine Suppenschale mit einem Löffel halten konnte. Es sah teuer aus, und ich fragte mich, ob es schon lange dort lag. Wahrscheinlich seit dem Tag, an dem Drowned Cross seinen neuen Namen bekommen hatte. Möglicherweise war es ein Manschettenknopf oder ein Armreif. Ich fand es traurig, dass irgendjemand es vermisste – vielleicht war es ein Stück eines Paars, und das zweite Stück war noch da. Dann bekam ich Schuldgefühle und kam mir dämlich vor, weil der Besitzer mit großer Sicherheit längst tot war und sich um sein verlorenes Uhrenarmband oder was es auch war bestimmt keine Sorgen mehr machte.
So schnell wir den Ort erreicht hatten, so schnell waren wir auch wieder heraus. Er war ja nicht sehr groß. Gonzo drehte das Lenkrad herum und manövrierte den Truck durch eine weite, schnelle Kurve. Das letzte Haus verschwand hinter uns. Vor uns donnerte Brisketts Panzer, und Gonzo trommelte wild aufs Lenkrad.
»Die offene Straße!«, rief ich ins Mikrofon.
»Oh – diese Ekstase«, funkten Jim Hepsobah und Sally Culpepper zurück.
»O ja, ja, ja!«, brüllte Gonzo Lubitsch.
Bone Briskett sagte kein Wort, aber er sagte auf eine Weise kein Wort, die uns merken ließ, dass er uns für verrückt hielt.
Bitte, guter Gott.
Ich will zurück nach Hause.
2 Zu Hause beim jungen Gonzo • Esel, Mädchen und erste Treffen
»Zeit zum Essen«, sagt Ma Lubitsch, ein gewaltiges Stück Schürze unter einem Gipfel aus fettigem, erdnussbraunem Haar. Der alte Lubitsch kann im Summen seiner Bienenstöcke nichts hören, oder er hat keine Lust, sich zu uns zu setzen. Jedenfalls bleibt die aufgebauschte weiße Gestalt draußen im Hof und watschelt, bewaffnet mit einer Dose, aus der dünner Rauch quillt, zwischen den Bienenstöcken umher. Ma Lubitsch macht ein Geräusch wie ein Wal, der sein Blasloch säubert, und deckt Messer und Gabeln. Dabei drückt sich die Kante des Tisches mit dem abblätternden Lack in ihren Bauch. Gonzos Mutter ist breit genug, um in der Kirche zwei Sitze zu beanspruchen, und einmal hätte sie mit einer zusammengerollten Illustrierten einen Einbrecher beinahe erschlagen. Gonzo selbst, der seine Jahre noch an den Fingern einer Hand abzählen kann, hat den etwas schlankeren Körperbau seines Vaters geerbt.
Eine meiner ersten Erinnerungen auf dieser Welt: Gonzo starrt mich mit der Zurückhaltung eines Fremden an. Er hat in der Ecke des Spielplatzes ganz allein ein unbeschreiblich kompliziertes Spiel gespielt, ist von einer Ecke des Sandkastens zur anderen marschiert und hat einen bestimmten Bereich platt getrampelt. Dann hat er Grenzen, Brücken, offene Bereiche und Demarkationslinien gezeichnet. Nun braucht er noch einen Mitspieler, aber der ist nicht da. Also dreht er sich um und entdeckt in der hinteren Ecke ein kleines, einsames Kind. Allein und in einem unergründlichen Kummer versunken. Geistesgegenwärtig macht er seine Mutter auf die Krise aufmerksam. Sofort kommt sie herbeigeschlendert und fragt, was denn los sei, ob ich mir wehgetan hätte, wo meine Eltern seien und wo ich wohne. Auf all diese Fragen habe ich keine Antwort. Ich weiß nur, dass ich weine.
Gonzo ist in diesem Augenblick klüger als seine Mutter, auch wenn sie ihm ihren Stempel aufgeprägt hat. Er rettet die Situation, indem er zum weißen Eiscremewagen am Tor geht, ein rotes, raketenförmiges Eis mit klebrigem Innenleben kauft und mir
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