Die gelöschte Welt
Lehrkörper aufkam, einem flohzerstochenen, durchaus weltlichen Sammelsurium brillanter Geister, ausgesondert aus Anstalten, die zu zimperlich gewesen waren, um sich mit ihren Marotten zu arrangieren. Die Evangelistin betrachtet diese Schwächen als Bürden, die den Betreffenden von der Vorsehung zusammen mit ihren Gaben auferlegt wurden, um ihre Standhaftigkeit auf die Probe zu stellen. Dem weisen göttlichen Plan entsprechend, dient das Scheitern bei solchen Prüfungen lediglich dazu, die armen Sünder in ihre eigenen heilenden, strafenden Hände zu treiben, auf dass sie die Schutzbefohlenen unterweisen kann, bis diese Buße tun und Selbstbeherrschung lernen. Mehr als einer von ihnen erlitt während meiner Schulzeit einen Nervenzusammenbruch, und mindestens einer der Überlebenden steht ständig unter starken Medikamenten, seit Gonzo mit mittelstarkem Draht, einem Plastikschädel und einer zerlumpten Pferdedecke experimentiert hat. Davon abgesehen sind sie ein ganz netter Haufen und stoßen, der Evangelistin zum Trotz, das Boot der Erziehung weiter hinaus, als es ihnen anderswo möglich wäre. Mr Clisp, der Spieler, unterrichtet uns in Mathematik, aber auch in materialistischer Ethik. Er zeichnet Logikrätsel auf die Tafel, die zunächst völlig neutral wirken, deren Lösungen aber die böse Xanthippe anschaulich verdammen können. Auch erklärt er uns die Grundzüge des Pokerspiels und die Geschäftstätigkeit eines Buchmachers. Ms Poynter (deren Sünde laut der Flüsterpropaganda darin bestand, gewisse körperliche Dienste gegen Bezahlung offeriert zu haben) ergänzt ihre Biologiestunden durch eine Einführung in die Erste Hilfe und Einblicke in die Naturgeschichte, was bei höheren Jahrgängen von einer äußerst umfassenden Sexualerziehung begleitet wird, bis wir im Alter von zehn Jahren eine Liste erogener Zonen aufsagen und den Unterschied zwischen primären und sekundären Geschlechtsorganen erklären können. Mit Beginn der Pubertät hat niemand mehr Angst vor den unvermeidlichen Schwellungen und Ausscheidungen. Später wird die Evangelistin Ms Poynter vorübergehend von ihren Aufgaben entbinden, bevor die Schulaufsicht Einwände gegen ihre Entscheidung erheben kann, die Mädchen in sexuellen Techniken zu unterrichten, während die Jungen einen strengen Vortrag über Moral und Selbstbeherrschung zu hören bekommen (unterbrochen allerdings von einem kurzen, aber bemerkenswerten Exkurs über Theorie und Praxis des Cunnilingus). Mary Jane Poynter macht daraufhin mit dem Sportlehrer Addison McTiegh zwei Wochen Urlaub auf Hawaii, aus dem die beiden ruhiger und weniger nervös zurückkehren. Und als die Prüfungsergebnisse eingehen und fast alle mit den besten Noten bestanden haben, verzichtet die Evangelistin darauf, Ms Poynter hinauszuwerfen, stellt aber die Bedingung, dass die Eltern keinen Grund mehr zur Klage finden dürfen. Die Schulaufsicht, die Ms Poynter am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte, ist unterdessen vollauf damit beschäftigt, die fanatische Evangelistin zu zügeln, die aus religiösen Gründen mehrere Pflichtlektüren aus dem Lehrplan streichen will. Gullivers Reisen überlebt die Schere der Zensur ebenso wie Eine Weihnachtsgeschichte, aber Modern Short Stories in English wird auf ewig verbannt. Leider ist das Buch so langweilig, dass nicht mal diese Empfehlung uns Schüler bewegen kann, es mehr als einmal zu lesen.
Mein Abfall vom Glauben kommt plötzlich, und er ist nicht so sehr eine Bekehrung als vielmehr eine Neubewertung. Kinder erschaffen sich ihre Welt und versuchen, sie zu verstehen. Ihre Überzeugungen sind ebenso formbar wie ihre Knochen. Daher fährt kein schrecklicher, unvermuteter Ruck durch mein Leben, als mein Glaube ausgemerzt wird. Eher ist es ein Gefühl, als hätte ich mir endlich die richtige Brille aufgesetzt, nachdem ich eine Weile die eines anderen getragen hatte. Die Evangelistin ruft mich in ihr Arbeitszimmer, um mich für einen von Gonzos Streichen zu schelten, und ich sitze da und warte darauf, dass eine höhere Macht eingreift und ihr erklärt, dass es nicht meine Schuld ist. Natürlich schaue ich nach oben, zu jener Stelle über meinem Haaransatz, wo die Erwachsenen dräuen und wo man ganz allgemein die Köpfe der Menschen und vor allem die Respektspersonen findet, die uns im Namen der Gerechtigkeit ihren Willen aufzwingen. Da ist aber niemand. Mir ist selbst nicht klar, ob ich nach dem personifizierten Gott oder einem ganz und gar irdischen
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