Die gelöschte Welt
Elternteil als dessen Instrument Ausschau halte, aber keiner der beiden erscheint. Die Evangelistin fügt eine Extrastrafe hinzu, weil ich vor ihr »die Augen verdreht« hätte, und ich muss eine ganze Woche nachsitzen. Gonzo fühlt sich seltsamerweise die ganze Zeit nicht wohl. Er leidet an Halsschmerzen, was vermutlich ansteckend ist, ihn aber nicht am Herumlungern hindert. Lydia Copsen zieht sich das gleiche Leiden zu. Einen großen Teil ihrer Rekonvaleszenz verbringen sie zusammen, indem sie an gegenüberliegenden Enden des Sofas sitzen, entsetzlich husten und einander unter der Decke mit den Füßen stupsen.
Aus dem Frühling wird der Sommer, aus dem Sommer der Herbst, und Gonzo und seine Liebste trennen sich, weil sie nicht begreift, wie wichtig es ist, auf schlammigen Wegen zu laufen und wie ein Irrer das Laub hochzutreten. Sie ergreift die Gelegenheit, ihm mitzuteilen, dass sie nur mit ihm gegangen sei, um Zugang zu den Eseln seiner Eltern zu bekommen, worauf Gonzo erwidert, dass die Esel sie und ihre alberne Frisur samt der dummen hoch getragenen Nase verachten und ihn mittels der Zeichensprache gebeten haben, ihr die tiefe und unerschütterliche Geringschätzung der ganzen Herde für all ihre Ansichten zu sämtlichen halbwegs belangreichen Angelegenheiten kundzutun. Nachdem das derart geschmähte Mädchen aufgebracht, aber wortlos verschwunden ist, kehrt Gonzo zum Ufer zurück, und schweigend angeln wir weiter. Dieses Mal fängt Gonzo mit seiner neuen Rute eine ordentliche Forelle. Allerdings bleibt es mir überlassen, das Tier zu töten und Ma Lubitsch zu übergeben, die es pflichtschuldigst ausnimmt und zum Abendessen zubereitet. Glücklicherweise gibt es auch noch einen erheblich angenehmeren Hackbraten.
Gonzo ist nicht der Einzige, der Beziehungsprobleme hat. Eines Abends im einsamen Oktober besteht der alte Lubitsch darauf, dass wir uns in Ma Lubitschs guter Stube niederlassen und zuschauen, wie die Welt verrückt spielt. Ma Lubitschs Fernseher ist eine Kuriosität – ein mit Holz verkleideter Apparat mit dicken Knöpfen, der erschreckend heult und spuckt und sich manchmal so überhitzt, dass er eine Pause braucht. Jedenfalls drängen sich auf dem Bildschirm mehr Menschen, als ich jemals an einem Ort versammelt gesehen habe, und die eine Hälfte scheint über irgendetwas sehr erfreut zu sein, während die andere Hälfte außerordentlich verstimmt wirkt. Beide Seiten zeigen außerdem eine große Ungeduld. Der alte Lubitsch erklärt uns, das sei in der Politik ganz normal, wobei Politik im Grunde bedeute, dass Länder und große Gruppen von Menschen alle anderen überzeugen wollen, alles so zu sehen wie sie selbst. Da das aber nie gelinge, komme sehr wenig dabei heraus, und die Anführer würden abgewählt, damit neue Leute gewählt werden könnten, die alles anders machen wollten. Die Regierungsgeschäfte seien, wie uns der alte Lubitsch weiter erklärt, eigentlich kaum mehr als eine Serie von Vollbremsungen, wobei sich alle darüber stritten, wie man die Landkarte zu halten habe.
Deshalb sind die heutigen Ereignisse geradezu schockierend. Es ist tatsächlich wider alle Wahrscheinlichkeit eine Entscheidung gefallen, und zudem eine, die niemand vorhergesehen hat. Es ist, um einen Begriff zu benutzen, den ein glucksender Analytiker fallen ließ, ein richtiger Knüller. Die Insel Kuba, weit entfernt, hat ihre kommunistischen Herrscher hinausgeworfen (die eigentlich eher Totalitaristen als Kommunisten waren – an dieser Stelle sieht der alte Lubitsch aus, als würde er gleich spucken, doch Ma Lubitsch wirft ihm einen totalitären Blick zu, und er verkneift es sich) und einen höchst ungewöhnlichen Weg eingeschlagen, um ihren Platz in der modernen Welt zu finden. Das kubanische Volk hat das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland (das eigentlich kein Königreich ist – das wäre eine andere Form von Totalitarismus) – um Aufnahme gebeten. Dies wurde akzeptiert. Das so entstandene Staatsgebilde heißt fortan die Vereinigten Inselkönigreiche von Großbritannien, Nordirland und Cuba Libre und wird von Witzbolden inzwischen schon als Cubritannia bezeichnet.
Als Einführung in die Politik ist das ein ziemlicher Hammer, aber der alte Lubitsch ist sowohl gut informiert als auch geduldig, und als der Abend zu Ende geht, habe ich begriffen, dass ich Zeuge eines historischen Ereignisses wurde, da das kubanische Volk beschlossen hat, sich einer Nation von Ladenbesitzern anzuschließen, weil
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