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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Reaktion stattfindet, die Gonzos Vater ökoszämisch nennt. Es bedeutet, dass der Zerfall Wärme erzeugt. Der alte Lubitsch häuft also sorgfältig warme, verrottende Gartenabfälle um die Bienenstöcke auf. Es riecht eigenartig angenehm nach Gras und nicht nach Verwesung und Zerfall, aber Ma Lubitsch mag es nicht und murmelt etwas Unverständliches über die verdammten Viecher und wie viel Honig man überhaupt im Leben essen könne. Der alte Lubitsch nimmt es sportlich und umarmt sie – er schafft es tatsächlich, die Arme um sie zu legen und sie vom Boden zu lupfen. Aber sie schlägt nach ihm und verlangt, er solle sie absetzen, bevor er sich einen Bruch hebt. Jedenfalls bleibt das unorthodoxe äußere Heizsystem an Ort und Stelle, auch wenn ihm Ma Lubitsch das Versprechen abnimmt, es müsse im Frühjahr verschwinden, um möglichen Explosionen vorzubeugen. Am folgenden Sonntag friert zum ersten Mal seit Menschengedenken der Megg Lake zu.
    Der Megg Lake ist ein Altwasser, dessen Form dem griechischen Ωähnelt, einem der wenigen Buchstaben, die Gnade vor den Augen der Evangelistin finden. Die anderen seien auf irgendeine geheimnisvolle Weise Wege zur Zügellosigkeit. Der See wird durch einen unterirdischen Fluss gespeist, der von den Mendicant Hills herunterkommt. Wenn es stark regnet, sprudelt der See im Westen über die Ufer und sucht sich durch die Überschwemmungskanäle einen Weg zum Meer. Der Megg Lake ist ein kabbeliger, turbulenter See. In der Mitte, wo das Wasser aufsteigt, bilden sich Wellen, die sich an den felsigen Ufern brechen und (wie wir aus dem Geografiebuch erfuhren) abwechselnd konstruktive Interferenzen erzeugen, wenn sich die Impulse gegenseitig verstärken und höhere Wellen aufwerfen, oder destruktive Interferenzen, wenn ihr Zusammenwirken kleine unbewegte Flächen entstehen lässt. Jetzt aber ist der See gefroren, ein weiter, graublauer Halbmond aus dickem, knarrendem Eis.
    Ma Lubitsch parkt das Auto. Es ist ein Wagen mit Vierradantrieb, zu dem der alte Lubitsch grundsätzlich keinen Zugang hat (es sei denn, irgendeine Notlage des Lebens zwingt ihn gegen den Widerstand seiner Gemahlin hinters Lenkrad), da er das Auto wie einen Rennwagen fährt und sich eine gemeine Sonnenbrille aufsetzt, um die bewundernden Blicke von Frauen anzuziehen, die viel zu jung für ihn sind. Ma Lubitsch hält das Ungetüm also vor dem See an, und Gonzo klettert über mich hinweg oder in seiner Ungeduld vielleicht auch durch mich hindurch. Dann laden wir alle den Wagen aus. Angelzeug, vorhanden. Planen, vorhanden. Holzkohleofen, vorhanden. Eissäge, vorhanden. Diese Familie – diese erweiterte Familie – will fischen wie die Eskimos. Der alte Lubitsch und Ma Lubitsch haben das früher mal gemacht, als sie ein engelhaftes Wesen ohne Hüften und er ein Stier von einem Mann war, so klein und stark wie ein tropischer Wirbelsturm. Und wie sie ihn verehrt hat. Dem schamlosen Blitzen ihrer Augen nach zu urteilen, soweit ich diese trotz Hautfalten, zusammengekniffenen Lidern und Wolldecke überhaupt erkennen kann, verehrt sie ihn immer noch und wird ihn gewiss ewiglich verehren. Nur dass der Geist eines Soldaten zwischen ihnen steht. Aber auch das trennt sie im Grunde nicht, sondern ist eine eigenartige, traurige Brücke und ein tiefes Wissen, das sie teilen. Marcus Maximus Lubitsch, Tennisspieler und befähigter Koch, zur ewigen Ruhe gebettet und sporadisch in seiner gut gepflegten Ecke des Friedhofs am Rande der Stadt besucht. In diesem Augenblick ist Marcus bei uns. Sogar Gonzo, der bis zu den Oberschenkeln im Schnee steht und fröhlich nach dem Pulver schlägt, verstummt und bricht so nicht das feierliche Schweigen, das sich zwischen seinen Eltern ausbreitet.
    Ma Lubitsch zündet den Brenner an, benutzt aber zu viel Flüssigkeit. Das Ding reagiert mit einer kleinen Explosion und versengt ihren Schal. Sie stößt einen mächtigen polnischen Fluch aus und sieht sich schuldbewusst um. Doch in dreißig Meilen Umkreis gibt es keinen einzigen Sprachwissenschaftler, und so kichert sie (zweifellos laufen konstruktive wie destruktive Interferenzen durch ihre Speckrollen, was aber den Blicken verborgen bleibt). Und der alte Lubitsch holt sich die Eissäge.
    Das Eis des Megg Lake kann man nicht so leicht aufschneiden. Es ist seltsam klar und hart, ungefähr wie Gletschereis, das über Jahrtausende gepresst und zusammengequetscht wird, und gar nicht wie das normale Eis auf einem See, das gewöhnlich voller Risse und Sprünge ist.

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