Die gelöschte Welt
Reservoir, Flüssiganzünder mit einer Mischung aus trockenem Holz, Holzkohle und ein paar Lumpen aus dem Kofferraum des Geländewagens, fängt Feuer und brennt gut. Auf dem Eis entsteht eine anderthalb Meter hohe Flamme. Eine gewisse Menge Rauch steigt auf, die auch Dampf sein könnte. Allerdings scheint nicht viel zu passieren, das Eis schmilzt offenbar nicht. Vielleicht ist es aber auch noch zu früh, um etwas zu sagen. In der Tat, es ist noch zu früh, und das nächste Stadium fällt etwas dramatischer aus, als wir es uns vorgestellt hatten. Es gibt ein Geräusch wie Mörserfeuer oder einen Laut wie bei einem Zugunglück oder wie wenn der Kirchturm in die Sakristei fällt. Ein mächtiges, erschütterndes, reißendes Geräusch, das von überall zugleich zu kommen scheint. Wahrscheinlich trifft keines davon wirklich zu, aber es ist sehr laut, und ich bin nur ein kleiner Junge.
Das Eis knackt, wie es geschieht, wenn man an einem heißen Tag einen Eiswürfel ins Glas wirft. Der Riss ist schmal, verlängert sich aber schnell, und dann entstehen noch weitere Risse. Irgendwo dort unten zuckt etwas Riesiges mit den Achseln. Ma Lubitschs Mutterinstinkt erwacht und erahnt die Dinge, die da kommen werden. Während unter der Eisdecke Dinosaurier ringen, wirft sie ihre geliebte, idiotische Familie ins Auto und fährt mit einem Tempo davon, das selbst der alte Lubitsch etwas beunruhigend findet. Gonzo und ich starren durch die Heckscheibe fasziniert zurück zum Megg Lake. So sind wir die Einzigen auf der Welt, die beobachten dürfen, was passiert, wenn das ablaufende Wasser einer ganzen Hügelkette mehrere Tage unter einem Pfropfen aus Luft und Eis eingesperrt und von einem rebellischen Sechzigjährigen entfesselt wird, der vor seiner Familie die verlorenen Jugendjahre nachholen will.
Die Eisdecke zuckt ein letztes Mal und macht schschrummm, dann schießt eine schäumende Eruption empor. Die Wassersäule ist höher als die höchsten Bäume am See, Eisbrocken in der Größe von Sonntagsbraten stürzen vor uns auf die Straße. Der volle Druck des Wassers von den Mendicant Hills, das auf dem Weg zum Meer so viele Tage in einem sechzig Meter tiefen See eingesperrt war, entlädt sich nun auf einen Schlag.
Eine vom fliegenden Matsch bewusstlos geschlagene Ente geht rechts von uns torkelnd auf einem Acker nieder. Dann setzt ein extrem begrenzter örtlicher Regen ein. Es hagelt, schneit, Eis kommt herunter, dazwischen eine kleine Zahl unglücklicher Frösche.
Der alte Lubitsch blickt auf sein Zerstörungswerk zurück und lacht. Es ist kein hysterisches Lachen, sondern ein echtes, entzücktes Lachen – aus dem Bauch – über diesen Anblick, diesen Irrsinn, diesen wundervollen Schlag ins Wasser. Ma Lubitsch schimpft zwar pausenlos mit ihm, aber ihr Gesicht ist gerötet, und auch sie muss lachen, und mir scheint, falls Gonzo noch einen kleinen Bruder bekommen soll, dann wird es heute Nacht geschehen.
Die Kälteperiode endet ein paar Tage später, als hätten wir mit unserem Zauber die Macht des Winters über das Land gebrochen. Der Schnee schmilzt über Nacht, und kurz danach buhlen kleine grüne Dinger um unsere Aufmerksamkeit. Die Esel der Lubitschs, einst der Anlass gewaltiger, aber längst vergessener Aufregungen, lassen sich nur widerstrebend aus dem Winterquartier führen und müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass sie von nun an wieder draußen zu leben haben. Ihre klagenden, völlig verlogenen Schmerzensschreie sorgen zwar für einige schlaflose Nächte im Haus der Lubitschs, aber Ma Lubitsch zeigt sich unbeugsam. Und schließlich haben es die Esel begriffen und geben Ruhe.
Gonzo, der Brandstifter und der große Anführer. Dazu Gonzos unvermeidliches Anhängsel – der Junge, den niemand beachtet? Auch er wächst auf. Er ist nicht einmal der Allerletzte, der in Fußballmannschaften und bei sportlichen Wettkämpfen ausgewählt wird, er sitzt nicht ewig auf der Reservebank; er ist Gonzos Schatten und gelegentlich auch dessen Gewissen, wenn der große Plan die Geduld der Erziehungsberechtigten mit Jungen, die nun einmal Jungen sind, endgültig überzustrapazieren droht – ob es nun darum geht, in der Küche nach Essbarem zu fahnden oder aus der Anstalt zu fliehen und in der Mongolei bei Zigeunern zu leben (ein Einfall, den die Evangelistin aus unerfindlichen Gründen als »Eitergeschwür der Sünde und Kapitulation« bezeichnete). Den Bibliothekar überlisten und indizierte Bücher stehlen, das wird fast von uns
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