Die gelöschte Welt
erwartet. Die Insassen einer Ameisenfarm auf eine Fährte von stibitztem Zucker zu hetzen, die unter den Duschen der Mitarbeiter endet, ist immerhin einfallsreich genug, um neben einer Reihe von Strafarbeiten auch den ironischen Beifall des Naturkundelehrers zu provozieren. Bei der Herstellung und Erprobung von Sprengstoff aus billigen, leicht erhältlichen Zutaten lege ich allerdings ein Veto ein, und nicht etwa, weil ich den wundervollen Entwurf nicht zu würdigen wüsste, sondern vielmehr, weil mir völlig klar ist, dass es für alles Grenzen gibt. Den Pavillon am Fußballplatz – selbst wenn er leer ist – mit selbst hergestelltem Nitroglyzerin hundert Meter hoch in die Luft zu jagen, geht eindeutig sowohl über die Grenzen des Erlaubten als auch über unsere alchemistische Kompetenz hinaus. Gonzo mag sich im Gegensatz zu mir nicht an den warnenden Film erinnern, in dem uns vernarbte, reumütige Opfer ihrer eigenen Überheblichkeit vor solchen Unternehmungen eindringlich warnten. So einigen wir uns lieber auf ein Gebräu, das im Pansen von Kühen intensive, lautstarke Verdauungsprozesse in Gang setzt, die Testobjekte aber, abgesehen von einem anschwellenden genervten Muhen, unbeeindruckt lässt.
Mit vierzehn Jahren entdeckt Gonzo die Kampfkunstfilme: die Werke der Herren B. Lee und J. Chan und der anderen mehr oder minder begabten Darsteller. Der Kampfkunstfilm ist ein eigenartiges sentimentales Ding, mit hehren Versprechungen überladen und sehr melodramatisch. Die Filme aus Hongkong sind gewöhnlich voller unübersetzbarer chinesischer Wortspiele, die in einem endlos neckenden Singsang vorgetragen werden. Die Handlungen sind so moralistisch wie bei Shakespeare und bewegen sich häufig zwanzig Minuten lang in eine unerwartete Richtung, ehe sie zum Hauptdrama zurückkehren, als wäre nichts geschehen.
Angeregt von diesen Filmen beginnt Gonzo, Karate zu lernen. Er ist der ideale Kandidat – furchtlos, kräftig und entzückt von den Veränderungen, die zahlreiche Liegestütze in seinem Körper auslösen. Sein einziger Nachteil ist, dass er zu spät dran ist. Hätte Gonzo mit seinem Training früher begonnen, dann wäre er eines Tages vielleicht ein echter Meister geworden. Wie es aussieht, muss er sich jetzt damit zufriedengeben, ein ausgezeichneter Schüler zu sein. Für den schmächtigen Mitläufer (dessen Yoko geri kekomi tatsächlich der schwächlichste im ganzen Einzugsbereich der Schule ist) stellt sich Karate als ein weiterer Lebensbereich dar, in dem er harte Rückschläge einstecken muss. Doch er gibt nicht auf. Er hat (ich habe) trotz der längst erworbenen Erkenntnis, dass ich den Leistungen meines Freundes nichts entgegensetzen kann – nie gelernt, rechtzeitig aufzuhören. Diese Tugend ist Gonzo völlig fremd, da er auf seinem mühelosen Streifzug durchs Leben niemals in die Verlegenheit kam, sie erwerben zu müssen.
Eines Tages beschließt das Universum, dass ich flügge bin, und zwingt mich folgerichtig zu meinem ersten Alleinflug. Mary Sensei führt mich vom Tatami, um meine wieder einmal blutende Nase zu untersuchen. Gebrochen habe ich sie mir nie, aber sie muss sich im Laufe der Zeit eine dicke Schicht Kalzium zugelegt haben, ganz im Gegensatz zu meinen Händen, die trotz stundenlangen Trainings am Sandsack empfindlich bleiben. Ich überlege, ob ich vielleicht Bretter mit der Nase zerlegen kann. Mary Sensei meint, das sei unwahrscheinlich und rät mir, das Experiment für unbestimmte Zeit zu verschieben. Mary Sensei, einssechzig groß und vierundfünfzig Kilo schwer, erklärt mir, ich sei für den Karatesport nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt. Mein Einsatz sei allerdings beeindruckend genug, um mir eine Alternative vorzuschlagen: eine andere Schule.
Ich wende ein, dass Gonzo sicher nicht die Schule wechseln will.
»Nein«, erklärt mir Mary Sensei. »Nicht Gonzo. Gonzo kommt hier gut zurecht. Nur du. Ohne Gonzo.«
Das ist etwas ganz Neues, aber ich finde es seltsamerweise gar nicht unangenehm.
»Eine andere Karateschule?«
»Nein. Ein anderer Stil. Vielleicht eine weichere Form.«
»Was ist eine weichere Form?«
Sie erklärt es mir.
So beginnt eine Tournee durch die Schulen der näheren Umgebung, die weichere Kampfsportarten anbieten. Ziemlich schnell wird mir klar, dass der Begriff »weich« irreführend – weil relativ – ist, da der Vergleich so oder so stets auf Männer und Frauen beschränkt bleibt, die sich möglichst umgehend in menschliche Zerstörungsmaschinen
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