Die gelöschte Welt
worauf dieser den Blick senkte und sich ganz reumütig gab. Als sie aber nicht mehr wachsam waren, prügelte er sie mit seinem abgebrochenen Brett zur Tür hinaus. Der Vater des jungen Mannes hatte eine Beule am Kopf, und sein Onkel hatte blaue Augen und blutete aus einem Ohr. So ging der junge Mann, der sich noch nie in einem echten Kampf bewährt hatte, in die Schenke und sagte dem alten, erfahrenen Meister des Gongfu, er sei ein kleiner Mann, ein elendiges Geschöpf und ein schwacher, betrunkener Esel ohne Feingefühl, der bei einer Dame, sofern er sie nicht bezahlt hatte, keinerlei Aussichten habe. Während der Meister ihn erstaunt anstarrte, fügte er eine weitere Reihe noch weniger höfliche Dinge hinzu, was vielleicht ungerecht war, die Aufmerksamkeit des Meisters aber jedenfalls sehr nachhaltig erregte. Also kämpften sie.«
Meister Wu lächelt, reckt dabei die schmalen Schultern, bis sie knacken, und als er weiterspricht, kommt ein kleines Leuchten in seine Augen, weil ihn die Erinnerung um Jahre verjüngt.
»Es war ein gewaltiger Kampf. Viele Schläge. Vielleicht hundert. Sie sprangen und schlugen, und der junge Mann zerbrach das Brett mit dem Fuß, aber der große Meister schleuderte ihn zurück. Der junge Mann rollte sich ab und kam auf die Füße, um abermals anzugreifen, und so ging es weiter und weiter, bis sämtliche Möbel in der Schenke so klein wie Anmachholz waren und beide zitterten und lauter Blutergüsse hatten. Doch der große Meister stand immer noch auf den Beinen, und sein Gegner konnte nicht siegen. Der junge Mann hatte zahlreiche Schnittwunden und Prellungen, seine Lippen waren geschwollen. Nun sagte der große Meister:
›Du hast dich gut geschlagen, junger Mann, aber jetzt erkenne ich, dass du müde bist, und ich bin stärker und größer als du. Ziehe dich zurück, dann werde ich dir nicht mehr wehtun. Wenn du aber bleibst, werde ich dich zerbrechen, wie du mein Brett zerbrochen hast, und deine Mutter wird um die verlorenen Jahre weinen.‹ Der junge Mann aber antwortete nicht. Er lächelte, als hätte er gerade etwas begriffen, schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Meeres. Dann bewegte er sich. Er machte einen Schritt, der dem langsamen, unaufhaltsamen Rhythmus in seinem Kopf entsprach, und der Sturm verlieh seinen müden Gliedern eine neue Kraft, die Gezeiten des Meeres spülten seine Schmerzen und Zweifel fort, und bald war der ganze Raum vom Rauschen der Wellen erfüllt. Der große Meister verfiel in denselben Rhythmus, und sie bewegten gleichzeitig die Füße, bis der junge Mann eine große Welle aus der Tiefe kommen hörte, die mit einem Gewicht, das Steine zerschmettern konnte, über den großen Meister hereinbrach. Der große Meister sank mit einem Schrei auf die Knie, und der Kampf war vorbei. Keuchend lag der Meister schließlich auf dem Boden der Schenke und musste später viele Wochen auf einer Liege zubringen, bis seine Wunden geheilt waren. Dann zog er, nachdem er den Schaden bezahlt hatte, voller Demut von dannen. Den Gerüchten nach sei er später Bäcker geworden, habe geheiratet, viele Kinder gezeugt und als braver Mann gelebt.
Der junge Mann erhielt danach den Spitznamen ›Ozean‹. Er war noch immer ein schlechter Bauer und dazu ein ausgesprochen schlechter Tänzer. Aber sein Vater, sein Onkel, seine Mutter und seine ganze Familie, alle waren besonders stolz auf ihn, und er war es zufrieden. Und das Geheimnis lautet nun folgendermaßen.«
Meister Wu kneift ein Auge zu und reißt das andere weit auf, krümmt die Hände und lispelt. Wahrscheinlich ist das die richtige Art, ein Geheimnis zu verraten.
»Wenn du dein Chi mit dem deines Gegners vereinst – wenn du den Atem deines Lebens mit dem seinen verbindest – dann kannst du die stärkste Festung erstürmen. So. Ist das nicht ein gutes Geheimnis?«
Ich habe keine Ahnung. Es klingt, als steckte wirklich etwas Tiefsinniges darin. Zugleich aber klingt es wie grober Unfug. Deshalb ist es ein hochkarätiger Blödzen oder Kampfkunstquark. Ich weiß nicht, ob ich es mir einfach merken oder als praktische Lektion auffassen soll, die lehrt, wie leicht man überlieferte Lebensweisheiten fälschen kann. Der alte Lubitsch hat einmal in einem Auktionshaus im weit entfernten New York gearbeitet und ist stolz auf einen Ausspruch, den er dort über die Herkunft osteuropäischer Ikonen gehört hat: »Siebzehntes Jahrhundert, aber der Künstler lebt noch.«
»Was heißt das?«, fragt Elisabeth.
»Keine Ahnung.
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