Die gelöschte Welt
Putz klappern.
Wir üben schweigend. Meister Wu schaut sehr traurig drein.
Am Abend dieses dunklen Tages, als sich Meister Wu das dritte Stück Apfelkuchen in den Mund gestopft hat und darüber nachdenkt, ob es ratsam wäre, noch ein viertes zu essen, hält Elisabeth es nicht mehr aus und fragt ihn nach Lasserly. Sie fragt zunächst aus reiner Neugierde, aber während sie die Frage formuliert, hebt sie die Stimme, weil sie ihren Zorn oder ihre Scham nicht mehr unterdrücken kann.
»Warum haben Sie nicht gegen ihn gekämpft?« Dann wird ihr klar, was sie gefragt hat, und sie wird verlegen.
Meister Wu zuckt mit den Achseln. »Mister Lasserly wollte wissen, ob ich Geheimnisse kenne«, erklärt er. »Er wollte mit mir kämpfen, um es auf diese Weise herauszufinden. Jetzt glaubt er die Antwort zu kennen. Ihm ist nun klar, dass ich gar nicht mit ihm kämpfen wollte, weil ich schon vorher ganz genau wusste, wie es sich entwickeln würde.«
»Aber er glaubt doch, er hätte gewonnen!« Darum geht es letzten Endes, denn unsere Ausgeglichenheit schmilzt dahin, nachdem Lasserly einen moralischen Sieg errungen hat.
»O du meine Güte«, sagt Meister Wu völlig ernst. »Ich wollte doch keinesfalls, dass er diesen Eindruck bekommt!« Er reißt die Augen weit auf, als würde ihm erst jetzt klar, welchen Eindruck er hinterlassen hat. »Du meine Güte! Ich bin ja so dumm !Meint ihr, ich soll ihn anrufen und ihm sagen, dass ich ihn mit Leichtigkeit besiegt hätte, weil er steife Beine hat, sich wie eine Kuh bewegt und seine Schultern anspannt? Aber andererseits«, fährt Meister Wu fröhlich fort, »hat er seine Telefonnummer nicht hinterlassen. Nun ja, es spielt auch keine Rolle.« Dann lacht er. »Es gibt keine Geheimnisse«, sagte er, »aber es gibt viele Dinge, die ich jemandem wie Mister Lasserly nicht erzählen möchte. Und durchs Erzählen hütet man sowieso keine Geheimnisse«, schließt Meister Wu entzückt. »Nicht, dass es überhaupt welche gäbe.«
»Gibt es wirklich keine? Keine Geheimnisse?«
»Geheimnisse?«, erwidert Meister Wu, als hätte er so etwas noch nie gehört. Elisabeth sieht ihn streng an.
»Ja«, sagt sie. »Vertrauliches Wissen. Geheime Lehren.«
»Oh«, sagt Meister Wu. »Diese Geheimnisse.« Dann lächelt er.
»Diese Geheimnisse«, wiederholt Elisabeth einen Augenblick später, als Wu Shenyangs Blick schon wieder zum Apfelkuchen wandert. Sie erkennt, dass die nachdenkliche Miene mit dem Kuchen und nicht mit den Geheimnissen des Chi zu tun hat.
»Du meinst so etwas wie die Innere Alchemie? Die Eisenhautmeditation und den Geisterhandstoß?«
Die Eisenhaut macht den Krieger für physische Waffen unverwundbar, und die Geisterhand dringt durch feste Gegenstände hindurch. Man kann ihr nicht entgehen und sie nicht abwehren. Ich habe das in Filmen gesehen, wusste bisher aber nicht, dass auch Mädchen solche Filme sehen.
»Ja«, bestätigt Elisabeth.
»Also, nein«, erwidert Meister Wu. »So etwas gibt es eigentlich nicht.«
Das sagt er allen, die ihn fragen, und früher oder später fragt jeder danach. Meister Wu hat nur wenige Schüler, aber einige von ihnen haben selbst schon wieder Schüler, und ein oder zwei von diesen haben ebenfalls bereits Schüler. So breitet sich auf der ganzen Erde ein großer Baum der Lehre und Entdeckung, des Experimentierens und der Anleitung aus. Aber die Wurzeln sind hier in Cricklewood Cove, und hierher kommt früher oder später jeder Schüler, ganz egal, auf welcher Ebene er gerade ist, um Meister Wu kennenzulernen. Jede Generation von Schülern soll eine Art familiäre Beziehung zu allen anderen unterhalten – von Eastbourne bis Westhaven gibt es Großonkel und Tanten des Stummen Drachen und dazu zahllose Brüder, Schwestern, Nichten und Neffen. Einige sind keck, einige sind unterwürfig, aber fast alle erwarten, wenn sie herkommen, einen Heiligen oder einen Krieger zu treffen, vielleicht auch einen geheimnisumwitterten Halbgott. Meister Wu gibt sich große Mühe, sie möglichst schmerzlos von diesen Illusionen zu befreien.
»Keine Magie«, erklärt er ihnen unverblümt. »Keine Geheimnisse, kein inneres Wissen. Die Wahrheit ist nicht verborgen. Sie ist ganz einfach. Nur sehr schwierig – aber ich bin hartnäckig!« Dann ein Lachen, das für ihn viel zu groß wirkt, und dann ein kleines Grinsen nur für den Schüler: »Ich hatte Glück. Ich habe früh begonnen«, was wohl bedeutet, dass ihm sein Vater die Lieder der Kunst schon in seiner Wiege in Yan'an
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