Die gelöschte Welt
erheblicher Erleichterung.
Dann kommt der Tag, an dem Meister Wu und ich so schnell agieren und reagieren, dass unsere Gliedmaßen kaum noch zu erkennen sind (»Newton! Sehr gutes Gongfu!«), und auf einmal sehe ich eine Lücke und schlage energisch zu, denke aber schon im gleichen Augenblick, dass ich einen Fehler begangen habe. Ich muss nämlich an das Grammofon und meine Angst denken, ich könnte es beschädigen. Wie entsetzlich und schlimm wäre es doch, wenn ich meinen Lehrer träfe und verletzte, selbst wenn es sich nur um eine Beule am Kopf handelt, ganz zu schweigen davon, ihm eine Wunde beizubringen. In diesem Augenblick packt er mit der linken Hand sanft, aber fest meine Faust, während er im gleichen Moment aus der Drehung um seine Längsachse herum mit der Rechten meine Kraft für seine Bewegung benutzt und mich durch die Luft schleudert. Ich lande im Goldfischteich, und Meister Wu und ein halbes Dutzend ältere Schüler lachen so laut, dass sie fast Zwerchfellrisse bekommen. Ich dagegen bin über den raffinierten alten Gauner so erleichtert und entzückt, dass sie mir aus dem Teich helfen müssen, damit ich nicht ertrinke. Meister Wu ist jedoch noch entzückter als ich, und außerdem ist er stolz.
»Ausgezeichnet! Du hast gewonnen!«
»Ich bin im Teich gelandet!«, wende ich ein, aber er schüttelt den Kopf.
»Du hast mich dazu gebracht, die Lage falsch einzuschätzen. Du warst schnell! Ich musste etwas tun, das ich nicht tun wollte.« Er grinst. »Glaubst du, du hast herausgefunden, was das Geheimnis ist? Vielleicht hast du dein Chi beinahe mit meinem verschmelzen lassen. Dann musst du mich unterrichten!« Er lacht und strahlt ebenso wie ich. Von der Terrasse aus sieht Elisabeth mit unbewegtem Gesicht zu, schließlich holt sie mir ein Handtuch, was eine große Ehre ist.
»Hat überhaupt schon mal jemand gewonnen? Oder war wenigstens mal jemand nahe daran?«, fragte ich Meister Wu an diesem Abend, als er die Beine über die kleine Brücke im hinteren Teil seines Gartens schwingt und seine Füße im Wasser kühlt.
»Oh, sie sind immer nahe daran«, antwortet er, »aber sie wissen es nicht, und ich verrate es ihnen auch nicht.«
»Aber mir haben Sie es verraten!«
»Einmal und nie wieder. Jetzt musst du es selbst herausfinden – wie die anderen auch. Ja? Ja. Jeder bekommt die Anleitung, die er braucht, ganz vollständig, mehr aber nicht.« Er lächelt. »Ich habe einen Schüler, der mich vielleicht besiegen könnte, aber er tut es nicht.«
»Warum nicht?«
»Vielleicht glaubt er, mit seiner Zurückhaltung gerade das zu tun, was ich brauche – und was die anderen Schüler auch brauchen: Ich soll als der Lehrer sterben, der nicht verlieren konnte.« Er grinst. »Vielleicht hat er auch einfach zu große Angst, um es zu versuchen, denn er könnte sich ja irren.« Dann lacht er laut und spritzt mich mit dem Fuß nass.
Eine Woche später klopft Alan Lasserlys Lehrer sehr höflich an die Tür des Stummen Drachen und sieht eine halbe Stunde lang zu, wie Meister Wu Ophelia unterrichtet. Er beobachtet Meister Wus Füße und Hände und seine Schritte und passt auf, als Meister Wu Ophelia mit dem Zeigefinger in die Kniekehle stupst, bis ihr Körper die richtige Haltung einnimmt und sie eher wie eine kleine Kämpferin aussieht und nicht wie ein kleines Mädchen, das Gongfu spielt. Als Yumei ihre Tochter holt, um ihr Milch zu geben, verneigt sich Mr Hampton tief vor Meister Wu und bedankt sich für die Lektion. Meister Wu sagt, keine Ursache, und Mr Hampton meint, er hätte Meister Wu gern kennengelernt, als er in Ophelias Alter war. Darauf antwortet Meister Wu: Als Mr Hampton in Ophelias Alter gewesen sei, sei Meister Wu ein wilder, hitzköpfiger Jugendlicher gewesen, der zu viel getrunken und in der Öffentlichkeit seine Hosen heruntergelassen habe. Mr Hampton lächelt und sagt, ganz ausgeschlossen sei das nicht, und Meister Wu bekräftigt, es gebe Fotos, mit denen er es beweisen könne, allerdings werde er sie niemals jemandem zeigen. Mr Hampton stimmt zu, dass dies möglicherweise das Beste sei. Sie trinken Tee. Nachdem er sich nach der Gesundheit von Mr Hamptons Familie und seinen Freunden erkundigt hat, fragt Meister Wu nach Mr Lasserly. Mr Hampton entgegnet, Mr Lasserly sei leider immer noch ein Idiot, was sie beide sehr bedauerlich und äußerst belustigend finden.
Am Abend nach Mr Hamptons Besuch bemerke ich zum ersten Mal die Glocken. Mir wird klar, dass es sie schon immer dort gegeben hat
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