Die gelöschte Welt
Es ist ein Geheimnis. Es bedeutet eben, was es für dich bedeuten soll. Aber jetzt haben wir eins und können uns weigern, es zu verraten!« Er lacht. Wu Shenyang vom Stummen Drachen erfindet Märchen wie Lydia Copsen.
Dann legt er eine neue Schallplatte aufs Grammofon, dieses Mal ist es Ella Fitzgerald, die nach Ansicht von Meister Wu viel über das Chi wusste, und Elisabeth und ich sind die ersten Schüler, die in die Geheimlehre der Schule des Stummen Drachen eingeweiht werden.
In diesem Jahr ist der Sommer außergewöhnlich heiß und trocken. Die Erde in Ma Lubitschs Garten zerkrümelt nach und nach zu Staub, der Rasen bekommt Risse und welkt dahin. Ganz egal, wie viel Wasser sie sprüht, die Erde ist zu durstig, um die Feuchtigkeit zu halten, und die Sonne schlürft alles wieder weg, bevor die Pflanzen trinken können. Schließlich geht sie dazu über, den Garten in der Nacht zu wässern, und der alte Lubitsch baut aus alten Bettlaken ein riesiges weißes Zelt, um den ganzen Garten tagsüber zu beschatten. Abgesehen von kurzen Ausflügen zu Angela Gosby, wo er den Pool benutzt und sich mit der jungen Gastgeberin rasenden Liebesspielen hingibt, bleibt Gonzo meist im Schatten und erklärt sich für bewegungsunfähig. Wenn die Temperatur jetzt um ein Grad weiter steigt, sind nur noch die Bienen glücklich, aber sogar sie müssen Abstriche machen. Die zentrale Kammer des Bienenstocks darf nicht wärmer als sechsunddreißig Grad werden. So entsteht eine summende Flugschneise vom Haus der Lubitschs zum Cricklewood Creek, und die zurückkehrenden Bienen transportieren kleine Wassertropfen zwischen ihren sanften Bienenfingern. Das ist eine mit Sklavenarbeit betriebene Klimaanlage, wenn man davon ausgeht, dass der Bienenstock von einer Autokratin regiert wird. Der alte Lubitsch hat mir jedoch schon vor langer Zeit erklärt, die Königin sei der wertvollste Besitz der Bienen, der verehrt und genährt werde, aber keine Befehle erteile. Ein Bienenstock sei eine gut funktionierende biologische Maschine. Er kann sich jedoch nicht entscheiden, ob dort eine gespenstische gesellschaftliche Harmonie herrscht oder ob es ein schrecklicher Albtraum ist, in dem die Geschöpfe einem sinnlosen, sich endlos wiederholenden Ablauf mechanistisch unterworfen sind. Er denkt in der Hitze laut über diese Frage nach, bis Ma Lubitsch dies als ein Gesprächsthema verurteilt, das nicht zur Limonade passt, worauf ihr Gatte die politische Philosophie dankbar bleiben lässt und sich für die wohltuenden Zitrusfrüchte entscheidet.
Im September gibt es sintflutartige Regenfälle. Danach kommen natürlich auch wieder trockene Tage, sogar solche, an denen man grillen kann. Aber der brütend heiße Sommer ist endlich vorbei. Wir gehen wieder zur Schule, und ich gerate unter den frisch eingetroffenen Insassen, die gekommen sind, um die eigenartige Weisheit der Evangelistin zu empfangen, vorübergehend in die Fänge eines neuen Folterknechts.
Donnie Finch ist ein großer böser Junge. Das soll heißen, er ist stark, sportlich, einschlägig vorbestraft (aber nichts Bedeutendes) und hat entschiedene Vorbehalte gegen jeden, der im Unterricht besser aufpasst als er. Alle mögen ihn sofort, er stößt alle sofort vor den Kopf und merkt sehr schnell, wer sozial unter ihm steht. Zwischen Französisch und Biologie drückt er mich an die Wand und verkündet, ich müsse ihn fortan »Sir« nennen.
Das hasse ich mehr als alles andere. Donnie Finch kennt mich überhaupt nicht. Er hat keinen Grund, mir so feindselig zu begegnen. Er weiß nur, dass sich ein echter Kerl eben so verhält. Er ist Donnie Finch. Ich bin es nicht. Er ist der Fußballheld, er raucht und ist witzig. Ich bin das alles nicht. Deshalb muss ich nach der einzigen Logik, die ihn interessiert, verachtet und angemacht werden. Er presst eine große, feuchte Hand mitten auf meine Brust und grinst höhnisch. (Ich denke an Mr Lasserly.) Das ist eben so, und es ist im Grunde witzlos: die schreckliche deterministische Bienengesellschaft des alten Lubitsch, nur viel größer und mit klebrigen Fingern. Diskussionen und Nuancen kann es nicht geben, weil dies eine Welt voraussetzen würde, die Donnie Finchs Bild vom Leben nicht entspricht. Er meidet komplizierte Sichtweisen und entscheidet sich für eine vorgekaute Alternative.
Unterdessen wäge ich das Für und Wider ab. Hilflos bin ich nicht, ich könnte Donnie Finch sogar töten. Das würde ich in diesem Augenblick auch ganz gern tun. Sein Körper
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