Die gelöschte Welt
vorgesungen hat.
»Nein«, sagt Meister Wu jetzt, »es gibt keine Geheimnisse. Kein einziges. Soll ich dich eines lehren?«
»Lehren? Was denn?«
»Ein Geheimnis.«
»Sie sagten doch, es gebe keine.«
»Ich erfinde eins für dich. Wenn das nächste Mal jemand fragt, können wir sagen, dass es doch Geheimnisse gibt. Aber wenn Mister Lasserly das jemals herausfindet, wird er sehr ungehalten sein.« Diese schreckliche Aussicht stört Meister Wu nicht im Mindesten. Er überlegt. »Na gut«, sagt er schließlich, »eine Geschichte und ein Geheimnis. Seid ihr bereit?«
Wir nicken.
»Es war einmal ein Junge«, beginnt Meister Wu, »der lebte in einer Zeit, als die Mütter eurer Mütter noch jung und hübsch waren, und bevor das Radio die Stimme von England in alle Winkel der Welt trug. Er konnte aus tausend Kilometern Entfernung das Meer hören. Er konnte in den trockenen Bergen stehen und die Wellen am Strand brechen hören. Er konnte den Blick auf die Berge richten und die Stürme gegen hohe Klippen, die er nie gesehen hatte, branden hören. In seinen Adern und seinem Herzen floss Salzwasser.
Daher konnte er viele Dinge nicht richtig tun. Er war ein schlechter Bauer, ein schlechter Jäger, ein schlechter Schuster und ein sehr schlechter Musiker, weil ihn der innere Lärm immer ablenkte und er die Noten im falschen Augenblick spielte. Noch schlimmer: Wenn er falsch spielte, wurden alle in die mächtigen Gezeiten des Meeres hineingezogen, und selbst die fröhlichste Musik verlangsamte sich und klang wie ein Trauermarsch: tiefe, lange Atemzüge, die sich im Nichts auflösten und dann wieder wie Tränen emporstiegen.
Man könnte meinen, dass er nicht beliebt war, aber er hatte ein gutes Herz, und auch seine Verwandten hatten ein gutes Herz, und solange er hart arbeitete und nicht zu oft etwas zerbrach, waren sie froh, dass sie ihn hatten. Er bewegte sich auf eine anmutige, fließende Weise, setzte einen Fuß nach dem anderen vor und wieder zurück, hinein und hinaus, auf und ab. Aber natürlich ist die Welt nicht für jemanden gemacht, der sich wie ein Schaukelpferd bewegt. Deshalb zerbrach er manchmal die Ecken von Dingen oder rempelte andere Menschen an, obwohl er sie trotz seiner Kraft nur leicht berührte. Vielleicht glich es sich insgesamt gesehen aus. Am Morgen arbeitete er bei seinem Vater und stellte Dinge aus Leder her – sein Vater hatte ihm in der Werkstatt eine Ecke eingerichtet, wo er hin und her schwanken konnte, ohne etwas umzustoßen –, und am Nachmittag arbeitete er bei seinem Onkel und buk Brot, dessen Teig es ziemlich egal ist, ob man ihn rollt und verdreht wie den Tang am Strand. Am Abend setzte er sich hin und schloss die Augen, bis er die Gischt spüren konnte, die ihn umspülte. Er atmete immer rechtzeitig ein, wenn die Wellen kamen und auf die Felsklippen prallten, die er nie gesehen hatte. Und immer, immer in der Morgendämmerung übten er, sein Vater und überhaupt die ganze Familie – auch die Frauen, was höchst ungewöhnlich war – zusammen ihr Gongfu, weil sie wussten, dass sie eines Tages würden kämpfen müssen. Unter ihnen allen war der junge Mann derjenige, der am härtesten übte und besonders aufmerksam lernte, weil seine Geduld wie die des Meeres war, das in seinem Kopf flüsterte.
Eines Tages kam ein großer Gongfu-Meister in die Stadt. Er war ein dicker Mann und ein Söldner. Er verdingte sich gegen Geld, hatte aber gerade keinen Herrn, und so etwas ist gefährlich. Damals gab es viele große Meister, von denen einige sehr groß und einige nicht ganz so groß und ein paar vielleicht nur deshalb groß waren, weil man höflich sein wollte. Dieser gehörte in die mittlere Gruppe. Er war so schnell wie eine Katze, aber nicht so schnell wie der Blitz, er war stark wie ein Wasserbüffel, aber nicht so stark wie ein Gebirgsbär oder ein Riese, er war klug, aber nicht weise, und er genoss seine Kraft und Geschwindigkeit und die Macht, die er über andere Leute besaß. Dieser große Meister, der kein sehr netter Mann war, betrank sich in der Dorfschenke und schlug mit einem großen abgebrochenen Brett um sich. Dabei traf er den Wirt zwischen den Augen und brach ihm den Schädel, sodass der Mann starb, und dann fiel er auch noch über die anderen Gäste und die Angehörigen des Wirts her.
Also gingen der Schuster und sein Bruder – der Vater und der Onkel des jungen Mannes – in die Schenke und sagten dem Mann, er solle sich wie ein Meister und nicht wie ein Schläger benehmen,
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