Die gelöschte Welt
ist schwach. Es gibt in Reichweite meiner Hand vier Ziele, die diesen Streit spektakulär beenden würden, auch wenn bei dreien von ihnen (Schläfe, Kehlkopf und Nasenbein) ein tödlicher Schlag mehr Kraft erfordern würde, als ich aufbieten kann. Wahrscheinlich würde ich ihn lahmlegen und ängstigen. Die vierte Möglichkeit (Halsschlagader) ist eine Art Glücksspiel. Ein leichter Schlag würde ihn wahrscheinlich umwerfen, könnte aber auch ein Gerinnsel oder abgelagertes Cholesterin lösen und eine Gehirnembolie verursachen. Sinnlos wäre, ihn aus Versehen zu töten.
So befriedigend eine Körperverletzung und ein kurzer Kampf auch sein mögen, dies sind keine Lösungen. Es sind nur Reaktionen – ebenso idiotisch wie Donnie selbst. Deshalb bin ich gelähmt und sehr aufgebracht. Ich will meine Wut ausleben, halte es aber für besser, darauf zu verzichten. Es ist schrecklich, mit sechzehn Jahren vom eigenen Gewissen geknebelt zu werden. Ich starre Donnie Finchs gerötetes Gesicht, den böse verzerrten Mund und seine Sommersprossen an und frage mich, was ich tun soll und was aus ihm werden mag, wenn er älter wird. Vielleicht wird er immer ein Schläger bleiben. Er stößt mich gegen die Wand, und ich atme aus und denke über weniger tödliche Möglichkeiten nach, die definitionsgemäß jedoch erheblich schwieriger sind, denn es erfordert eine gute Ausbildung, um einen Gegner abzuwehren, ohne ihn ernsthaft zu verletzen. Dann löst sich das Problem namens Donnie Finch auf sehr gnädige Weise, denn Gonzo betritt zufällig diesen Flur und erkennt, in welcher Klemme ich stecke. Er sagt kein Wort, sondern schiebt sich nur energisch zwischen uns, packt Donnie Finchs Hand und drückt. Donnie Finch lässt los. Ich bin nicht sicher, ob ich erleichtert sein soll oder nicht.
Zu Weihnachten gibt es bunte Bänder, Tannenbäume und Ma Lubitschs sagenhaften Kuchen. Angetrieben von einer perversen Furcht vor hormonellen Ausschreitungen zur Zeit der Geburt Christi, verkündet die Evangelistin, die Heilige Schrift verbiete es, sich mit Angehörigen des anderen Geschlechts zu verabreden. Das finden wir so bemerkenswert, dass sich in der Bibliothek eine lange Schlange bildet, weil alle in der Bibel nachlesen wollen, ob sie etwas verpasst haben. So bricht ein theologischer Disput aus, der bis in den Februar oder noch länger nicht mehr abflauen will.
Meister Wus Tochter zieht nach Lindery, das nicht weit entfernt an der Küste liegt. Sie ist in Ma Lubitschs Alter, wirkt aber so jung wie ich – und ist sehr winzig und sehr schön. Sie heißt Yumei, ihre zweijährige Tochter heißt Ophelia. Ophelia beobachtet mich ernst, während ich die Umarmung des Tigers übe, und schlägt mir ihre kleinen Hände beharrlich auf die Hüften. Meine Hüfte ragt heraus. Ich gebe mir mehr Mühe. Ophelia berät sich mit Meister Wu und billigt meine Verbesserung – und Meister Wu lächelt breit, als sich seine Assistentin dem nächsten Schüler zuwendet.
Einer der Esel bekommt in einem Ausmaß Mundgeruch, das selbst unter Eseln nicht mehr tolerierbar ist. Die anderen gehen ihm aus dem Weg, was zu gewaltigen klagenden Schreien führt, die von Einsamkeit und Verrat künden, bis der Tierarzt kommt und an irgendeinem Abszess ein Wunder vollbringt, woraufhin alles wieder in bester Ordnung ist.
Im April laufe ich mit Penny Green am Cricklewood Creek entlang. Sie lernt mit Gonzo Geografie und trägt einen Plastikschmetterling im Haar. Er ist kalt und sehr schön. Wir betrachten das Wasser und reden über Enten, bis sie auf einmal torkelt. Zuerst glaube ich, sie sei gestolpert, aber dann legt sie mir die schlanken, kräftigen Arme um die Hüften, drückt sich an mich und pflanzt mir einen Kuss auf den Mund. An manchen Stellen ist sie weich und an anderen ganz knochig. Als mir klar wird, wie sehr sich ihr Körper von meinem unterscheidet, kommt es mir vor, als hätte in meinem Kopf jemand das Licht eingeschaltet. Wir küssen uns sehr lange. Sie freut sich darüber. Dann geht sie nach Hause. Irgendwie rechne ich damit, dass ein echtes Date daraus wird, aber das passiert nicht. Wir bleiben Freunde, und ich stelle fest, dass es mich nicht stört. Penny Greene verliebt sich in einen Jungen namens Castor, aber die ganze Sache sieht, zumindest von außen, völlig trostlos aus. Ich verabrede mich unterdessen mit Alexandra Frink, die ich jedoch unendlich langweilig finde. Oder vielleicht liegt es auch an mir. jedenfalls bleiben wir keusch und verabschieden uns mit
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