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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Elisabeth ist eine zierliche blonde Person, die nicht viel spricht, aber die Dinge im Haus des Stummen Drachen mit genau der Selbstsicherheit ordnet, die für Damen dieses Alters typisch ist. Sie übt die Figuren mit den anderen Schülern und schläft auf der Couch, weil ihre Mutter keine Zeit hat, sich um sie zu kümmern. Meister Wu ist seiner Tyrannin gegenüber äußerst gehorsam, und sie wiederum gibt sich Mühe, ihre Macht mit viel Feingefühl und Diskretion auszuüben, bisweilen sogar – erstaunlicherweise – mit einer gewissen Milde. Manchmal, wenn Meister Wu Heimweh hat, einsam oder einfach nur müde ist, backt sie ihm einen gewürzten Apfelkuchen mit Zimt oder Char Siu Bao. Dann essen wir zusammen, und das hilft ihm. Auf irgendeine Weise bin ich ein weiteres Mal adoptiert worden, und jetzt muss ich meine Zeit zwischen Gonzo und Meister Wu aufteilen.
    Die Lehre des Stummen Drachen wird jeden Morgen und Abend um sieben Uhr und an Wochenenden den ganzen Tag unterrichtet. Die Schüler kommen, wann sie können, und bleiben mindestens eine Stunde. In der Woche malt Meister Wu Kalligrafien und liest viele Bücher. Dadurch weiß er ungeheuer viele kunterbunte Einzelheiten über viele verschiedene Themen, von denen manche nutzlos und manche nützlich sind. Fast alle gehen aber irgendwie in die Lektionen ein. Neben dem Elvis-Gang lernen wir also auch den Lorenzpalastschritt (mathematisches Gongfu) und die vitruvianische Faust (da-Vinci-Gongfu) und – bis Elisabeth interveniert – den Eileiterarm (der Name bezieht sich auf eine Zeichnung in meinem Biologiebuch und passt zur Stellung des Ellbogens in der letzten Position, wenn er auch etwas beunruhigend klingt). Ich lerne, wann immer ich kann, und aus irgendeinem Grund bessern sich meine Noten durch meine Bekanntschaft mit Meister Wu, obwohl ich so viel Zeit auf andere Dinge als meine Hausaufgaben verwende. Zuerst bin ich besorgt, Gonzo könne auf meine Abwesenheit ungehalten reagieren, aber er ist mit anderen Dingen beschäftigt und braucht für gewisse Aktivitäten eine Menge Freiraum.
    Im März hat Meister Wu einen unwillkommenen Gast, einen Mann namens Lasserly, der den ganzen Weg von Newport herübergekommen ist. Lasserly ist ein tatkräftiger Mann mit einem großen Kopf und rotem Gesicht. Er hat sehr dicke Arme und riecht nach altem Segeltuch. Er will die Geheimnisse lernen. Jeder Schüler der Kampfkunst weiß von den Geheimnissen. Es gibt Gerüchte über sie, und sie werden auf der ganzen Welt belächelt. Manche Lehrer reden ihren Schülern ein, das Wissen um die Geheimnisse werde es den Anhängern erlauben, das Alter und den Tod zu besiegen, stundenlang den Atem anzuhalten und den Geist aus dem Körper herauswandern zu lassen, um die Gegner zu zerschmettern – so wie Flash Gordon mit seiner Strahlenkanone. Andere Meister, die sachlicher und ehrlicher sind, behaupten, die Geheimnisse seien eher symbolisch zu verstehen und stellten Wegmarken auf der Reise zum Selbst dar. Oder es seien besonders wichtige Stilelemente, die erst den fortgeschrittenen Studenten erläutert würden. Meister Wu erklärt Lasserly, es gebe keine Geheimnisse.
    »Hören Sie doch auf«, erwidert Lasserly. »Natürlich gibt es Geheimnisse.«
    Nein, beharrt Meister Wu sanft, es gebe wirklich keine.
    »Sie wissen doch so viele Dinge«, sagt Lasserly.
    Das stimmt zweifellos. Mit großer Sicherheit, räumt Meister Wu ein, wisse er Dinge – sogar über Gongfu –, die Lasserly nicht bekannt seien. Er habe aber keine Lust, mit Lasserly über diese Dinge zu reden, weil Lasserly unhöflich und sogar unverschämt sei und weil Meister Wu nettere Leute kenne, mit denen er seine Zeit lieber verbringe.
    »Na gut, dann lassen Sie uns kämpfen.«
    Das ist lächerlich, wenn man es sich richtig überlegt. Lasserly ist hundert Pfund schwerer als Meister Wu, und seine Hände haben vom vielen Üben dicke Hornhäute.
    Nein, sagt Meister Wu, nachdem er eine Minute schweigend nachgedacht hat. Das sei sinnlos.
    Lasserly geht hinaus. Unterwegs stupst er mich mit einem riesigen Finger auf die Brust. Hinter der Berührung steht sein ganzer massiger Körper. Er könnte sein gesamtes Gewicht in diesen einen Finger legen und mich wahrscheinlich damit durchbohren. Ich hätte ihn nicht so nahe herankommen lassen dürfen.
    »Du verschwendest deine Zeit«, knurrt Lasserly. »Dieser Kerl kennt überhaupt keine Geheimnisse.« Dann spaziert er hinaus und knallt die Tür hinter sich so zu, dass die Porzellanenten auf dem

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