Die gelöschte Welt
Durchdringung ausgerichtet sein oder nicht, aber was Aline angeht, so gibt es keinen Zweifel.
Sex und Politik und Leute zum gemeinsamen Herumhängen, mehr kann sich ein Jugendlicher kaum wünschen. Einen unübertroffenen Höhepunkt erreichen wir, als wir demonstrieren, schreien und vor den Schergen von Recht und Ordnung fliehen. Dabei stehlen wir den Helm eines Polizisten, den wir im Cork über der Theke befestigen. Als das siegestrunkene Ringelreihen vorbei ist, begeben wir uns in Alines Wohnung, wo sich herausstellt, dass sie nicht nur den Helm gestohlen hat. Ich komme aus der Dusche und finde sie, nackt bis auf ein Paar Handschellen, atemlos auf dem Bett kniend. Glücklicherweise hat sie auch den Schlüssel gestohlen.
Der Anruf kommt am nächsten Morgen. Es ist Elisabeth Soames, aber sie weint und spricht fast ausschließlich in einer Fremdsprache. Ich will sie beruhigen und sie, ganz sanft und ganz einfach, darum bitten, sich abzuregen und Englisch zu sprechen – oder ich will es wenigstens versuchen. Aber irgendetwas hat sich verändert, denn ich bekomme kein Wort heraus, weil meine Kehle eng wird und mein Mund voller Salz und Wasser ist. So etwas hatten wir schon einmal – meine Nase läuft, und mir rollen die Tränen übers Gesicht. Elisabeth erzählt unentwegt, sie schreit und tobt, und ich bin der Zeuge ihres Ausbruchs. Die ganze Zeit aber benutzt sie ihre fremde Sprache: eigenartig harte Silben, die keinen Platz in meinem Kopf haben und unverständlich bleiben. Trotzdem oder vielleicht gerade weil sie so aufgeregt ist, kann ich nicht zu weinen aufhören. Meine Kehle ist wund. Irgendwann sehe ich mich nach Aline um, doch sie ist schon fort, weil sie früh zu einer Vorlesung musste. Ich bin nicht sicher, ob es Fahnenflucht oder eine Gnade ist. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch hier war, als das Telefon klingelte.
Elisabeth schweigt eine Weile, oder vielmehr, sie redet nicht mehr, sondern keucht ins Telefon, und als ich genau hinhöre, erkenne ich, dass ich auch meinen eigenen rasselnden, unregelmäßigen Atem höre. Über eine Stunde geht es so, bis ich endlich verstehe, was sie sagt. Ich kann mich noch genau an die Unterhaltung erinnern, an die endlosen, ständig wiederholten Schrecken dieser sechzig Minuten, und ich weiß schließlich auch, dass sie überhaupt keine Fremdsprache benutzt hat. Nicht die Worte sind das Problem, sondern der Inhalt. Sie hat mir gesagt, dass Wu Shenyang tot ist. Als ich das erkenne, verliere ich jedes Zeitgefühl, bis ich vor seinem ehemaligen Haus stehe. Sie sitzt allein davor auf der Bordsteinkante, die Füße in der Gosse. So verbringe ich mit ihr den Tag.
Ma Lubitsch lehrte mich, dass es immer nur eine Wahrheit gibt. Daran erkennt man sie auch – sie ist einzigartig. Es gibt keine vielfachen Versionen von Ereignissen, es gibt kein »von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet«. Ma Lubitsch ist vor allem eine Mutter, und die Mutterschaft ist kein binärer Zustand. Aber hier auf der Straße, vor dem schmorenden Trümmerfeld, das einst den Stummen Drachen beherbergte, gibt es doch zwei Wahrheiten. Beide gehen von bestimmten Tatsachen aus. Dieses Haus ist die Nummer fünf in dieser Straße. Ein alter Mann chinesischer Abstammung wohnte darin, und es enthielt eine Sammlung antiker Waffen, viele altmodische Möbel und ein ebenso altmodisches Grammofon. Irgendwann zwischen achtzehn Uhr, als Yumei und Ophelia nach Hanley fuhren, um ihren neuen Hund abzuholen, und Mitternacht, als sie zurückkehrten, brach auf der Gartenseite des Hauses ein Feuer aus, das rasch das ganze Gebäude erfasste.
Übrig blieb ein Skelett. Das Feuer hat das Fleisch verbrannt, und deshalb hat der Schädel der Wahrheit zwei Gesichter. Das erste ist einfach, schlicht und auf freudlose Weise beruhigend. Wu Shenyang ging spät zu Bett, nachdem er eine gewisse Menge Brandy zu sich genommen hatte. Er vergaß, den Schirm vor den Kamin zu stellen, ein verirrter Funke sprang aus den grünen Scheiten in den Raum und entzündete die nicht zusammenpassenden Vorhänge. Das Haus war voller Papier und Holz, deshalb brach rasch ein großer, sehr heißer Brand aus. Dies wäre die schwer zu ertragende Wahrheit. Diese Art von Kummer kommt häufig vor, und eigentlich hat man damit schon genug zu tun.
Die zweite ist komplizierter, denn für sie gibt es keine Beweise. Ein Held ist gestorben, und seine Wahrheit sieht folgendermaßen aus:
Die Standuhr macht tacktick, das Feuer ist fast heruntergebrannt. Meister Wu
Weitere Kostenlose Bücher